Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zum „Familiennachzug“:

Es ist schon erstaunlich, wie verbittert Union
und SPD um den Familiennachzug von Geflüchteten gerungen haben. Ganz
so, als sei dies das wichtigste Zukunftsthema in Deutschland.
Natürlich ist es für die betroffenen Menschen von elementarer
Bedeutung, ob sie isoliert leben oder ihre Familie nachholen dürfen.
Doch für die Bundesbürger würde die Fortsetzung des Familiennachzugs
keinen derart weitreichenden Einschnitt bedeuten, wie die CSU
suggeriert. Wir haben ganz andere Probleme. Wie zum Beispiel die hohe
Luftverschmutzung oder die Aussicht, dass es auch mit dieser nächsten
Regierung keine nachhaltige Reform des Gesundheitswesens geben wird.
Zukunftsrelevant ist auch, wie wir den horrenden Mietpreisen begegnen
oder die Digitalisierung an den Schulen wirksam umsetzen. Diese
Baustellen muss die nächste Regierung beherzt anpacken. Daneben ist
der Familiennachzug von subsidiär Geschützten als Problem
überschätzt. Natürlich ist Zuwanderung ein ernstes Thema und braucht
politische Entscheidungen. Aber den Nachzug einschränken, ist falsch.
Zumal es keineswegs um den millionenfachen Zuzug geht, den die AfD
alarmistisch verkündet hat. Sondern nur um 50 000 bis 60 000
Menschen. Migrationsforscher betonen, wie elementar das Zusammensein
mit der eigenen Familie für eine gelungene Integration ist. Wer
einwendet, der Nachzug würde Geflüchtete zusätzlich an Deutschland
binden, übersieht, dass es sich bei den meisten um Kriegsflüchtlinge
handelt. Sie können nicht nach Hause, denn in Syrien sieht es nicht
nach raschem Frieden aus. Es ist also im Eigeninteresse Deutschlands,
wenn sie sich hier gut integrieren. Familien wirken sozial
stabilisierend, das ist von Vorteil für die ganze Gesellschaft. Für
die CSU hat die Frage des Familiennachzugs aber hohe symbolische
Bedeutung: Sie will unbedingt zeigen, dass sie alles unternimmt, die
Zu- und Einwanderung zu begrenzen. Um der AfD nicht das Feld zu
überlassen, ist der Partei, die sich sonst als Anwältin der Familien
ausgibt, die Familie plötzlich egal. Die Angehörigen ins Land zu
lassen, wäre ein humanitärer Akt. Und eine Entscheidung, die
ermöglicht, sich um die echten Probleme zu kümmern: Wie die massive
Luftverschmutzung: In 70 deutschen Städten werden Grenzwerte
regelmäßig überschritten. Ministerin Hendricks geht davon aus, dass
der Europäische Gerichtshof Deutschland zu einer Strafzahlung
verdonnert. Die kann hoch sein – Experten rechnen mit 400 000 Euro
pro Tag ab Urteilsverkündung plus einem Pauschalbetrag für die
Vergangenheit. Der könnte bei 25 bis 30 Millionen Euro liegen. Das
ist das Ergebnis der Politik der großen Koalition, speziell von
CSU-Verkehrsminister Dobrindt: Die Autokonzerne haben mit ihren
Manipulationen Gewinne gemacht, die Konsequenzen daraus bezahlt die
Allgemeinheit. Gar nicht zu reden davon, dass die Stickoxide unsere
Lebenszeit verkürzen. Wir sollten als Wähler genau hinschauen, zu
wessen Gunsten die nächste Regierung entscheidet, wenn es um die
Umrüstung der sechs Millionen Diesel-Pkw geht: Müssen die
Autokonzerne als Verursacher bezahlen oder die Verbraucher, die sich
einen Diesel kauften, im Glauben, damit umweltschonender zu fahren?
Falls es der nächsten Regierung ernst wäre damit, untere Einkommen zu
entlasten, böte die Reform des Gesundheitssystems eine Chance: Die
Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung hieße, nicht nur
Arbeitnehmer, sondern auch Selbstständige, Freiberufler und Beamte
einzubeziehen. Und aufzuräumen mit dem Privileg, dass Kapitalerträge
und Vermögenseinkünfte nicht für die Beiträge herangezogen werden. So
würde der soziale Zusammenhalt in Zeiten gefühlter Unsicherheit
gestärkt. Wenn Union und SPD das gelingt, hätten sie es nicht nötig,
auf Themen zu schielen, die die AfD vorgibt.

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

Original-Content von: Mittelbayerische Zeitung, übermittelt durch news aktuell