Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel „Mittelbayerische Zeitung“ zu Tschernobyl

Machen wir uns nichts vor: 25 Jahre nach der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl würde normalerweise kein Hahn mehr
groß nach den schrecklichen Ereignissen von damals krähen. Es gäbe
die üblichen Gedenkveranstaltungen mit Betroffenheitsreden von
Politikern. Atomgegner und -Befürworter würden sich wieder darüber
streiten, wie viele Opfer das Unglück in Wahrheit gefordert hat.
Umweltverbände würden – völlig zu Recht – darauf hinweisen, dass
Wildschweine und Pilze auch in Bayern immer noch eine hohe
Strahlenbelastung aufweisen – die gleichen Rituale wie vor fünf, zehn
und 15 Jahren auch schon. Danach ginge jeder wieder zum gewohnten
Geschäft über. Diesmal ist alles anders: Dass sich die
Atomkatastrophe von Fukushima ausgerechnet wenige Wochen vor dem
Tschernobyl-Gedenken ereignete, ist statistisch gesehen wohl noch
unwahrscheinlicher als ein GAU in einem Kernkraftwerk. Doch dieser
seltsame Zufall bringt uns nicht nur den Schrecken von Tschernobyl
zurück – anschaulicher als allen lieb ist. Viele werden ihn als
unheilvolle Warnung vor blindem Technikglauben verstehen. Und vor
allem muss sich die Menschheit jetzt erneut fragen, ob sie nicht
einmal im Angesicht des atomaren Höllenfeuers lernfähig ist. In
Deutschland – leider nicht im Rest der Welt – führte Tschernobyl
anfangs tatsächlich zu einem gewissen Umdenken. Die Katastrophe, die
lange in Gefahr stand in Vergessenheit zu geraten, verhalf der
Anti-AKW-Bewegung nach 1986 zu einem enormen Schub. In der Oberpfalz
und in Niederbayern, wo ein Teil der radioaktiven Wolke
niederregnete, kippte die Stimmung gegen die Atomkraft stärker als im
Rest der Republik. Begriffe wie Becquerel, Rem und Sievert –
Maßeinheiten zur Strahlenbelastung – gehörten plötzlich zum
Alltagsvokabular der Menschen in Ostbayern. Und die Warnungen, dass
frisches Gemüse, Milch oder das Spielen im Sandkasten auf einmal die
Gesundheit gefährden können, machten auch aus vielen strammen
Konservativen überzeugte Atomgegner. Dieser Sinneswandel
manifestierte sich in eindrucksvoller Weise im Widerstand gegen die
WAA in Wackersdorf, wo damals fast jedes Wochenende Zehntausende
gegen die Atomfabrik demonstrierten – junge Kernkraftgegner mit
PLO-Tüchern Hand in Hand mit gesetzten Herrschaften in Lodenmänteln.
Der Wutbürger wurde damals in der Oberpfalz geboren – als Kind von
Tschernobyl und Wackersdorf. Mit dem Aus für die WAA, mit dem Fall
des Eisernen Vorhangs und den vielen daraus resultierenden Umbrüchen
verblasste jedoch nicht nur die Erinnerung an den atomaren GAU. Mit
dem von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg fiel auch die
Anti-AKW-Bewegung in sich zusammen. Ihre Renaissance erlebte sie erst
mit der Laufzeitverlängerung durch die schwarz-gelbe Regierung und
natürlich jetzt durch Fukushima. Hier zeigt sich, dass deutsche
Politiker doch dazulernen können – wenn auch erst nach einer
Katastrophe. Als Folge von Tschernobyl wurde kein einziges
Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet. Damals konnte man die
Schuld auf veraltete Sowjet-Technik schieben. Heute – nach dem
zweiten Tschernobyl in Fukushima – kann niemand mehr behaupten, so
ein Unglück könne sich in einem modernen Industrieland nicht
ereignen. Deshalb verdient Angela Merkel Beifall, wenn sie es mit
ihrer versprochenen Energiewende tatsächlich ernst meint und
zumindest die älteren Atommeiler nie wieder ans Netz lässt. Mögen
andere Staaten stur an der Kernkraft festhalten, bis es bei ihnen
selbst einen GAU gibt: Die einzig richtige Entscheidung ist es, dem
eigenen Volk nicht länger ein Restrisiko zuzumuten, von dem letztlich
niemand weiß, wie hoch es tatsächlich ist. Dann hätten wir die
Gewissheit, dass es bei uns kein drittes Tschernobyl gibt.

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