Gestatten, Edward Snowden: 31, US-Amerikaner,
lebt derzeit aber inkognito irgendwo in Moskau, ehemals
Systemadministrator bei einer Geheimdienst-Tochter, später Informant,
dann Held beziehungsweise Vaterlandsverräter. Je nachdem wen man
fragt. Snowden opferte ein „sehr komfortables Leben“, wie er es nennt
(122 000 Dollar Jahresgehalt, Haus in Hawaii), dafür, einen der
größten Skandale der vergangenen 30 Jahre aufzudecken. Das ist jetzt
fast genau ein Jahr her. Snowden ließ Freundin und Familie zurück. Er
landete in Russland, einem Land, das die Pressefreiheit mit Füßen
tritt – und hofft dort auf ein weiteres Jahr Asyl. In seiner Heimat
drohen ihm Jahrzehnte hinter Gitter. Ein Urteil dürfte noch härter
ausfallen, als das über die WikiLeaks-Whistleblowerin Chelsea
Manning. Snowden selbst kommentierte das gegenüber dem britischen
Guardian so: „Wenn ich in Ketten in Guantanamo ende, könnte ich damit
leben.“ Obwohl er durch die Enthüllungen nur Nachteile hat, sagt er:
„Das war die lohnenswerteste Arbeit meines Lebens.“ Dank Snowden
wissen wir: Die NSA kann auf jede erdenkliche Art und Weise
Informationen aus dem Internet abgreifen – auch weil sie niemand
daran hindert. Mit Hilfe des britischen Partnerdienstes GCHQ werden
Daten direkt aus Glasfaser-Kabeln abgefischt, Staatsoberhäupter oder
verschlüsselte Verbindungen sind vor der Sammelwut der Dienste nicht
sicher. Selbst Telefone und Computer, die nicht mit dem Internet
verbunden sind, können überwacht werden. In die analoge Welt
transkribiert, heißt das: Sie schreiben in Ihr Notizbuch, welche
geheimen Sehnsüchte Sie haben, womit Sie unzufrieden sind, in das Sie
Ihre liebsten Fotos kleben und Ihre Kontonummer schreiben. Sie haben
nichts getan, was irgendwie verdächtig sein könnte. Doch permanent
steht jemand hinter Ihnen, fertigt ohne Ihr Wissen eine Kopie von
jedem Detail an, wertet es beliebig aus, und sieht gar nicht ein,
dass daran irgendetwas verwerflich sein könnte. Hier gehe es doch um
die Sicherheit von Bürgern. Stattdessen wird derjenige zum Verbrecher
gemacht, der Ihnen auf die Schulter klopft und Ihnen überhaupt erst
von dem Mitschreiber berichtet. Doch erst als später bekannt wurde,
dass auch das Handy der Kanzlerin abgehört wurde, reagierte die
Politik. Erstmals wurde der amerikanische Botschafter einbestellt.
Sonst wurde alles unternommen, um bloß nicht die Beziehung zum Freund
und Verbündeten USA zu stören. Das No-Spy-Abkommen mit den USA ist
gescheitert; zwar wurde wegen der Enthüllungen ein
Untersuchungsausschuss eingesetzt, der die Hintergründe der
Ausspähung aufdecken soll – ein BND-Agent lauschte für die NSA mit,
und faktisch wird dieses Gremium durch die Bundesregierung behindert.
Snowden als Zeuge? Gern, nur einreisen darf er nicht. Asyl für
Snowden? No way! Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen des
Lauschangriffs aufs Kanzlerinnen-Handy, aber sonst erscheinen ihm
Snowdens Dokumente nicht ausreichend, um gegen die Überwachung von
Millionen Bürgern vorzugehen. Einzig eine UN-Resolution zur
Datenspionage liegt auf Drängen Deutschlands und Brasiliens auf dem
Tisch. Nur sind diese Resolutionen reine Willenserklärungen. Edward
Snowden hat bewiesen, dass die Welt noch unvorhersehbarer und
gefährlicher ist, als George Orwells Utopie „1984“. Sein Fall sorgt
für Empörung und Wut – zumindest unter all jenen, denen es nicht egal
ist, von Behörden belauscht, bestohlen und belogen worden. Ein Jahr
ist viel Zeit. Zeit, in der viel getan, geregelt oder geklärt hätte
werden können. Doch passiert ist nichts. Es ist traurig und zynisch,
wenn Bundesjustizminister Heiko Mass (SPD) dem flüchtigen Snowden
rät, in die USA zurückzukehren: Er sei doch erst Anfang 30 und wolle
sicher nicht den Rest seines Lebens gejagt werden und von Asyl zu
Asyl wandern. Noch trauriger ist allerdings, dass Snowdens Schicksal
und seine Enthüllungen nur noch einen Bruchteil der Öffentlichkeit
interessieren – anders lässt sich dieser Stillstand nicht erklären.
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