Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu „Regensburger OB Joachim Wolbergs“:

Es ist der totale Absturz: Am 30. März 2014 war
Joachim Wolbergs der gefeierte Held. Mehr als 70 Prozent der
Regensburger wählten den SPD-Mann zum Oberbürgermeister. Ein Triumph.
Gut zwei Jahre später begann der freie Fall: im Juni 2016
Ermittlungen wegen Vorteilsannahme, am 18. Januar 2017 die Verhaftung
mit anschließender Untersuchungshaft, dann die Suspendierung vom Amt.
Jetzt wartet ein gebrochener Mann auf seinen Prozess – angeklagt
wegen Bestechlichkeit, Vorteilsannahme und Verstößen gegen das
Parteiengesetz. Sein Leben sei kaputt, sagt Wolbergs. Er erzählt von
Enttäuschungen: Weggefährten, die vor Jahren auf Fotos nicht nahe
genug bei ihm stehen konnten, versuchten heute, jeden Anschein von
Freundschaft zu vermeiden. 551 Tage sind seit dem Beginn der
Ermittlungen gegen Wolbergs vergangen. 551 Tage, die die Stadt
Regensburg, vor allem aber den Menschen Joachim Wolbergs, verändert
haben. Er beteuert weiterhin seine Unschuld. Ein Teil der
Regensburger steht zu ihm, andere haben ihn längst schuldig
gesprochen. Politik und Korruption – das ist für viele ein stimmiges
Begriffspaar. Doch so einfach ist die Sache nicht. Wolbergs und seine
Anwälte nahmen im laufenden Ermittlungsverfahren bislang kaum
Stellung zu den Vorwürfen. Deswegen dominierte die Staatsanwaltschaft
mit ihrer intensiven Informationspolitik die öffentliche Wahrnehmung
des Falls. Ein Beispiel: Auf sieben Seiten konnten die Regensburger
nachlesen, welche Vorwürfe Wolbergs gemacht werden, beendet mit dem
kurzen Hinweis, dass trotz allem die Unschuldsvermutung gelte. Doch
wer registriert diesen wichtigen letzten Satz, wenn vorher ein
Vorwurf nach dem nächsten präsentiert wird? Die Frage nach dem Wert
der Unschuldsvermutung darf deshalb im Fall Wolbergs gestellt werden.
Denn das Prinzip verlangt von den Ermittlern, so zu agieren, dass
Beschuldigte nicht vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, sollten
sie freigesprochen werden. Der Fall des am Ende rehabilitierten
ARD-Wetterfrosches Jörg Kachelmann zeigt, wie bei prominenten
Beschuldigten schon der veröffentlichte Verdacht einer Straftat zu
dauerhaften Schäden führen kann. Joachim Wolbergs äußert sich nach
mehreren Versuchen unsererseits heute erstmals in einem Interview der
Mittelbayerischen. Wie das Gespräch zustande kam, ist unspektakulär:
Die Redaktion fragte bei ihm an. Nach wenigen Tagen sagte der
46-Jährige zu. Das war–s. Dass der suspendierte OB die MZ für diesen
Auftritt wählt, hatten wir nicht erwartet. Denn in einer
Videobotschaft übte er kürzlich noch Fundamentalkritik an den Medien,
auch an der Mittelbayerischen. Eine subjektiv geprägte Wahrnehmung.
Natürlich machen auch Medien Fehler. Aber die MZ-Redaktion hat in der
Berichterstattung über die mutmaßliche Korruptionsaffäre nach bestem
Wissen und Gewissen recherchiert und Informationen erst
veröffentlicht, wenn sie belegbar waren. Große Recherchen wurden
vorab mit Presseanwälten diskutiert. Ein Problem blieb trotz aller
Sorgfalt: Wolbergs und seine Anwälte äußerten sich auf Nachfrage der
Redaktion selten bis gar nicht zu Vorwürfen. Dass der MZ das
zweiteilige Interview Aufmerksamkeit bringen wird, ist klar. Doch die
Quote war nicht der Beweggrund. Wir leisten mit der Veröffentlichung
unserer journalistischen Sorgfaltspflicht einmal mehr genüge.
„Audiatur et altera pars“ (Auch der andere Teil werde gehört!) lautet
der Grundsatz, dem sich Journalisten verpflichtet fühlen müssen. Nun
redet mit Wolbergs eben dieser andere Teil ausführlich. Und es ist
auch ein Gebot der Menschlichkeit, in Fällen wie diesen Sache und
Person zu trennen. In der Sache wird ein unabhängiges Gericht Recht
sprechen. Was die Person anbelangt, können sich die Regensburger 551
Tage nach Beginn der Ermittlungen jetzt ihr eigenes Urteil über
Joachim Wolbergs bilden.

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