Mittelbayerische Zeitung: Miss Verstanden – Gleichberechtigung geht alle an. Trotzdem müssen sich Frauen bei dem Thema vordrängen. Von Christine Strasser

Deutsche Zeitungen sind voll von klugen
Kommentaren, treffenden Analysen und wegweisenden Ideen. Der Haken:
Nur wenige präsentieren eine weibliche Sicht auf die Welt. Denn nur
rund 18 Prozent aller Leitartikel sind von Frauen verfasst. Das ergab
eine Auswertung überregionaler Blätter durch den „Spiegel“. Die
Stichprobe wurde vor einem Jahr gezogen, aber sehr wahrscheinlich
wäre das Ergebnis auch heute noch ähnlich. Ist das schlimm? Spielt es
für den Leser überhaupt eine Rolle, welches Geschlecht der Autor
eines Meinungsartikels hat? Gestern tauchte die Frage auf. Denn das
Allensbach-Institut veröffentlichte Umfrageergebnisse zum Stand der
Emanzipation. Die Studie ist beauftragt vom politischen Frauenmagazin
Emma und wurde unter anderem vorgestellt von Alice Schwarzer,
Deutschlands bekanntester Feministin. Das Ergebnis: Mehr als jede
zweite Frau sieht noch Handlungsbedarf in Sachen Gleichberechtigung.
Vor allem bei Verdienst, Karriere und Hausarbeit fühlen sich Frauen
benachteiligt. Wenn in der Redaktionskonferenz der MZ über den Autor
des Leitartikels diskutiert wird, geht es um Themen und wer das
meiste Wissen dazu hat. Gestern war das, wie gesagt, anders. Es ging
zwar auch um Themen und wer das meiste Wissen dazu hat. Es war aber
schnell klar, dass eine Redakteurin über das Thema Emanzipation
schreiben sollte. Denn was Frauen tun müssen, wenn sie ihre
Interessen durchsetzen wollen: Sie müssen sich in den Vordergrund
drängen – wie Männer das tun. Frauen müssen lernen, stärker Meinung
zu machen. Statistiken zu finden, die eine Benachteiligung von Frauen
belegen, ist skandalös einfach. Skandalös, weil Frauen seit
Jahrzehnten für ihre Emanzipation kämpfen. Skandalös, weil eigentlich
eine Mehrheit für einen gesellschaftlichen Wandel sein müsste. Denn
Karrierefragen, die lange nur Frauen zugeordnet wurden, stellen sich
mittlerweile genauso für Männer. Wie lässt sich ein gerechter
Ausgleich zwischen beruflicher und familiärer Verantwortung
herstellen? Was ist mit Elternzeiten? Ist es möglich, in Teilzeit zu
arbeiten und trotzdem Führungsverantwortung zu übernehmen?
Gleichberechtigung ist ein Thema, das Frauen und Männer angeht. Es
hier zu kommentieren, ist trotzdem Frauensache – auch um den zumeist
weiblichen Kolleginnen im Kundenservicecenter die Anrufe
aufgebrachter Leser und Leserinnen zu ersparen. Und auf die hätten
sie gefasst sein müssen, wenn an dieser Stelle das Bild eines
Redakteurs abgedruckt wäre. Es geht aber nicht nur darum, keine
oberflächlichen Angriffspunkte zu bieten. Es geht auch um persönliche
Erfahrungen. Als „Emanze“ werden Männer nur sehr selten verschrien.
In einer überfüllten U-Bahn betatscht werden sie auch nicht. Sie
werden auch nie den Satz von ihrem Chef hören, dass es ja ein
gewisses Risiko sei, sie auf eine Führungsposition zu setzen,
schließlich könnten sie ja schwanger werden. Frauen machen all diese
Erfahrungen – und noch mehr. Ein Mann käme auch für solche Sätze in
Teufelsküche: Diese hysterischen Weiber, die sich über jeden
Frauen-Po auf einem Werbeplakat aufregen, nerven. Wenn in Berlin ein
Barbiehaus steht, dann ist das Abendland nicht in Gefahr. Und wer à
la Femen seinen blanken Busen in die Kameras reckt, ist noch keine
Feministin. Mit Gekreische kommt die Emanzipation nicht voran. Dafür
braucht es sachliche Argumente, mit denen Frauen in Diskussionen mit
Politikern und Wirtschaftsbossen bestehen können. Insofern hat es
eine Rolle gespielt, dass eine Frau diesen Leitartikel geschrieben
hat – so klug, treffend und wegweisend wie es ihr möglich war.

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