Mittelbayerische Zeitung: Mission „Gesicht wahren“

Von Ulrich Krökel

Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die Eskalation
des Syrien-Konflikts eine ähnlich große Herausforderung wie für
Barack Obama. Dem US-Präsidenten wird derzeit jene
berühmt-berüchtigte „rote Linie“ zum Verhängnis, die er einst zog
(„beim Einsatz von Chemiewaffen greifen wir ein“). Ähnlich eindeutig
hat sich der Kremlchef positioniert, allerdings exakt
entgegengesetzt. Putin hat einen internationalen Militäreinsatz in
Syrien von Anfang an strikt abgelehnt („nicht hinnehmbar“). Nun sind
Obama und Putin in der Pflicht. Der eine muss schießen lassen, obwohl
er das lieber vermieden hätte. Der andere muss reagieren – und weiß
nicht wie. Ob Obama in Syrien etwas zu gewinnen hat, ist zweifelhaft.
Putin indes kann nur verlieren. Er verfügt über keinerlei aktive
Handlungsoptionen. Er will und kann nicht militärisch antworten. Im
schlimmsten Fall könnte der Kreml versuchen, das Assad-Regime in
Damaskus schnell weiter aufzurüsten. Aber selbst davor schreckt Putin
zurück. Ein Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten unter
Einbeziehung nicht nur der Nato, sondern gegebenenfalls auch des
Irans und Israels, ist schlicht nicht im Moskauer Interesse. Im
Gegenteil: Ein solcher eskalierender Krieg wäre eine existenzielle
Bedrohung für Russland und seine geostrategischen und
energiepolitischen Ziele in der Region. Ähnlich war die Situation im
Irak-Krieg vor zehn Jahren. Auch damals hielt Moskau militärisch
still und beschränkte sich auf lautstarken Protest, im Gleichklang
mit Paris und Berlin. Derzeit ist Putin allerdings selbst eine solche
öffentlichkeitswirksame Reaktion verwehrt. Angela Merkel wird sich
nicht auf einen Marktplatz stellen und im Wahlkampf gegen
amerikanische Kriegstreiberei wettern wie weiland Gerhard Schröder.
Der Kremlchef kann auch schlecht den mutmaßlichen Giftgasmörder
Baschar al-Assad zum Opfer stilisieren. Allenfalls kann er die
antiwestliche Rhetorik im eigenen Land weiter verschärfen – sofern
das noch möglich ist. Längst hat sich Wladimir Putin in einer
ideologischen Wagenburg verschanzt. Für alles Böse und Schlechte, das
sich in und um Russland herum zusammenbraut, ist demnach allein der
Westen verantwortlich. Das beginnt bei den Punk-Musikerinnen von
„Pussy Riot“ und den Bürgerrechtlern, die gegen seine Wiederwahl
protestierten. Und es endet bei zerstörten russischen
Weltmachtträumen und außenpolitischen Einkreisungsfantasien. All das
ist in einer zunehmend multipolaren Welt völliger Unfug. Obama wäre
heilfroh, wenn der berühmte „Reset“, der Neustart in den
russisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Ende der Bush-Ära,
gelungen wäre und er mit Putin eine friedliche oder sogar eine
produktive Koexistenz pflegen könnte. Stattdessen zeichnet der Kreml
wie zu Zeiten des Kalten Krieges das Feindbild Amerika in immer
dunkleren Farben. Große Teile der russischen Gesellschaft lassen sich
von dem finsteren Gemälde beeindrucken. Das ändert nichts daran, dass
Putin eine rückwärtsgewandte Politik betreibt und sein riesiges Land
in eine Sackgasse manövriert. Ein neuer Kalter Krieg ist gleichwohl
nicht in Sicht. Dazu fehlen beiden Seiten die Ressourcen. Lachende
Dritte eines neuen Ost-West-Konflikts wären die Chinesen. In den USA
gibt es zudem kein Interesse daran, die Konfrontation mit Russland
zuzuspitzen. Im Atomstreit mit dem Iran, in Afghanistan und im
Anti-Terror-Kampf sind beide Seiten aufeinander angewiesen. Am Ende
werden Washington und Moskau im Syrien-Konflikt versuchen, sich
irgendwie zu arrangieren. Obama und Putin wären sicher nicht
unzufrieden, wenn sie fürs Erste ihr Gesicht wahren könnten.

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