Mittelbayerische Zeitung: Srebrenica mahnt Leitartikel zum Kriegsbeginn in Ex-Jugoslawien vor 20 Jahren

Die Geschichte ist eigentlich schnell erzählt –
und hat vielleicht sogar ein Happyend. Vor 20 Jahren begann der
Zerfall eines Vielvölkerstaates. Nach vielen Kämpfen sind auf dem
Territorium von Ex-Jugoslawien sieben neue Staaten entstanden. Sie
existieren einigermaßen friedlich nebeneinander her. Alle sind oder
wollen in die EU und vielleicht werden sie auf diese Weise sogar
wieder Mitglied eines übernationalen Gebildes. Wer nur so
argumentiert, macht es sich aber zu einfach. Er blendet das Leid der
Menschen aus. Zehntausende wurden in den 90er- Jahren verfolgt,
gequält, vergewaltigt, vertrieben, getötet. Zwar wurde und wird vor
dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen die schlimmsten
Übeltäter ermittelt und einige sind bereits ins Gefängnis gewandert –
aber die Wunden, die der Bürgerkrieg auf dem Balkan geschlagen hat,
sind noch lange nicht verheilt. Und was für die Zukunft noch
schlimmer ist: Eine Wiederholung von Kriegsverbrechen wie in
Srebrenica kann niemand völlig ausschließen – auch nicht in Europa.
Das alte Jugoslawien war – wie zuvor die österreich-ungarische
Donaumonarchie – ein Vielvölkerstaat. In ihm lebten Kroaten, Serben,
Bosniaken, Kosovaren oder Mazedonier oft von Ort zu Ort bunt gemischt
neben- und miteinander. Die Bürgerkriege zerstörten diese
Gemeinschaft. Im von Scharfmachern geschürten nationalen Wahn kam es
zu den berüchtigten ethnischen Säuberungen. Die aufgehetzten Menschen
wurden zu Opfern eines durchaus rationalen Kalküls. Die Kroaten
wollten ihren kroatischen Staat – möglichst ohne störende nationale
Minderheiten. Die Serben sehnten ein Großserbien herbei, überall in
diesem Land sollten Serben die dominierende Rolle spielen. Kosovaren
und Bosniaken dachten ähnlich. Dieses Kalkül ging auf – und Europa
sah zu. Wer die Landkarte auf dem Balkan ansieht, wird feststellen,
dass die sieben neuen Staaten sich innerhalb der alten
Republikgrenzen von Jugoslawien gebildet haben. Die Völker leben
jetzt aber weitgehend nebeneinander und nicht mehr wie früher
miteinander. Dies entspricht einer im 20. Jahrhundert in Europa
üblichen Praxis. 1923 kam es nach dem griechisch-türkischen Krieg zu
einem sogenannten Bevölkerungsaustausch. Das Hitler-Regime holte
Volksdeutsche „heim ins Reich“ und vertrieb zum Beispiel Polen aus
den eroberten Ostgebieten. Churchill sprach sich nach 1945 für die
Aussiedlung der Deutschen aus Osteuropa aus. Die Begründung: Mit
dieser nationalen Flurbereinigung schaffe man sich auf Dauer Probleme
vom Hals, die beim Zusammenleben von verschiedenen Volksgruppen sonst
immer wieder entstehen. Der kroatische Führer Franjo Tudjman oder der
Serbe Slobodan Milosevic nahmen sich daran ein Beispiel, ja sie
kooperierten still und heimlich bei dieser Politik auf Kosten ihrer
Mitbürger. Und – leider muss man das feststellen – die Geschichte
gibt ihnen Recht. Zwar wird auf dem Balkan über Rückkehrmöglichkeiten
für Flüchtlinge gesprochen, aber die Realität sieht anders aus. Wer
die Bevölkerungsverschiebung wieder korrigieren will, muss sich die
Frage gefallen lassen, ob er den Frieden gefährden will. Und die
Jugend will sowieso nicht mehr mit den Fragen der Vergangenheit
konfrontiert werden und schaut lieber nach vorne, nach Europa, nach
Westen, zur Arbeit und zum Geld. Doch ein Moment des Innehaltens nach
20 Jahren sollte sein. Wenn die ethnische Säuberung auch im 21.
Jahrhundert ein anerkanntes Mittel der Politik bleibt, dann schafft
dies Konfliktpotenzial. Noch gibt es Minderheiten in europäischen
Staaten. Sie vor nationalem Irrsinn zu schützen, bleibt eine Aufgabe
einer um den Balkan erweiterten EU.

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de