Die Tschernobyl-Debatte im Bundestag ist zu
einem Schlagabtausch über die deutsche Atompolitik verkommen. Das war
absehbar, wird aber der Sache in keiner Weise gerecht. Denn die
Dimensionen der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion 1986 wie auch
des aktuellen Desasters in Fukushima reichen weit über das
Klein-Klein deutscher Innenpolitik hinaus. Damit keine
Missverständnisse aufkommen: Die Frage, wie schnell Deutschland aus
der Atomkraft aussteigen kann, ist wichtig und lohnt jeden Streit.
Aber darüber lässt sich eben auch tagtäglich anderenorts diskutieren,
es muss nicht in einer Tschernobyl-Debatte breitgeklopft werden. Man
stelle sich einmal vor, es ist runder Jahrestag des Weltkriegsendes,
und Deutschlands Parlamentarier reden sich sachfremd über den
Libyen-Einsatz oder den Afghanistan-Krieg die Köpfe heiß. So nicht!
Schon klar: Sonntagsreden stehen in einem schlechten Ruf. Am Freitag
hätten es im Bundestag aber gern ein paar tiefschürfende Reflexionen
über den Umgang des Menschen mit moderner Technik sein dürfen, wenn
die Abgeordneten schon zum 25. Jahrestag über Tschernobyl
debattieren. Die Frage muss doch gestellt werden, ob wir mit unserem
wachstumsorientierten und konsumhörigen Verständnis vom Wirtschaften
überhaupt auf dem richtigen Weg sind. Die Philosophie des „immer
schneller – immer höher – immer weiter“ prägt unseren Alltag, in der
Kommunikation nicht minder als im Verkehr oder in der
Freizeitgestaltung. Halten wir daran fest, werden alle noch so gut
gemeinten Energiesparprogramme fruchtlos bleiben. Es reicht deshalb
nicht aus, in einem Nebensatz von der „Bewahrung der Schöpfung“ zu
faseln, wie Jürgen Trittin dies gestern in einem Anflug von
grün-schwarzem Größenwahn getan hat. Gerade von den Grünen, die
derzeit vor Kraft kaum laufen und deshalb wahrscheinlich auch nicht
mitreißend im Bundestag reden können, darf der Bürger und Wähler an
dieser Stelle mehr erwarten. Von all den wegweisenden Ideen –
angefangen bei den „Grenzen des Wachstums“, mit denen der Club of
Rome schon 1972 auf den Plan trat, bis hin zur viel beschworenen
Nachhaltigkeit der Jahrtausendwende – sind doch bislang kaum mehr als
Leerformeln geblieben. Zwingend notwendig wäre es in einer
Tschernobyl-Debatte, die diesen Namen verdient, auch gewesen, einen
sachkundigen Blick auf die Situation in den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion zu werfen. Kein Wort war da zu hören über den richtigen
Umgang mit der Ukraine und Weißrussland, den von der
Reaktorkatastrophe am schwersten betroffenen Staaten. Beide Länder
befinden sich wie in den 80er Jahren auf einer abschüssigen Bahn, die
jederzeit wieder in einem Desaster enden kann – auf welchem Gebiet
auch immer. Es muss ja nicht immer eine Atomexplosion sein. Wie also
soll sich die EU zur Ukraine verhalten? Es ist ja durchaus
verständlich, dass man in Brüssel und vielen anderen westlichen
Hauptstädten des ewigen Streites in Kiew überdrüssig ist. Und die
Angst in Europa, sich nach den Erfahrungen mit Pleitestaaten wie
Griechenland und Portugal einen weiteren Klotz ans Bein zu binden,
ist durchaus begründet. Die Ukraine (und ebenso Weißrussland) sich
selbst oder dem Kreml zu überlassen, kann aber auch keine Lösung
sein. Darüber sollte man sich einmal grundlegend Gedanken machen,
eine echte Strategie entwerfen und gern auch im Bundestag kompetent
und leidenschaftlich debattieren. Wenn es wieder geknallt hat wie
einst in Tschernobyl, ist es dazu zu spät.
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