Mitteldeutsche Zeitung: Jahrestag des Mauerfalls Politiker beklagen: Ostdeutsche in den Eliten zu wenig vertreten

Führende ostdeutsche Politiker haben anlässlich des
heutigen 23. Jahrestages des Mauerfalls 1989 das Fehlen Ostdeutscher
in den gesamtdeutschen Eliten beklagt. „Ostdeutsche Repräsentanten
sind in den gesamtdeutschen gesellschaftlichen Netzwerken, aber auch
in den Chefetagen der Wirtschaftsunternehmen nur unzureichend
vertreten“, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff
(CDU) der in Halle erscheinenden „Mitteldeutschen Zeitung“
(Online-Ausgabe). „Das stelle ich immer wieder bei unterschiedlichen
Anlässen auf der Bundesebene fest. Damit fehlen aber in der
gesamtgesellschaftlichen Diskussion und Meinungsbildung ganz
wesentlich die Erfahrungen, die aus ostdeutscher Sicht von Bedeutung
sind und die bei politischen Entscheidungsprozessen nicht
ausgeblendet werden dürfen.“ Der aus Erfurt stammende
haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten
Schneider, erklärte: „Insbesondere da, wo man starke Netzwerke
braucht, sind die Eliten nicht durchlässig. Das ist insbesondere in
der Wirtschaft so. In der Topführungsriege von Unternehmen treffe ich
ganz, ganz selten Ostdeutsche. In der Justiz ist es ähnlich. Die
Politik ist durchlässiger – aber vor allem im Osten selbst. Es gibt
nur eine einzige Ostdeutsche, die im Westen Ministerin ist. Und es
gibt nur ganz wenige Ostdeutsche, die Abgeordnete im Westen sind.
Umgekehrt ist es überproportional.“ Die Linkspartei-Vorsitzende Katja
Kipping nannte es gegenüber der „Mitteldeutschen Zeitung“ „schade,
dass der Erfahrungsvorsprung, den viele Ostdeutsche bei der
Bewältigung von gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen haben,
nicht genutzt wird“. Sie forderte „einen Ostdeutschland-Gipfel, auf
dem Politik, Verbände und Wissenschaft darüber beraten, wie
ostdeutsche Erfahrungen für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft
genutzt werden können“.

Der Jenaer Soziologe Raj Kollmorgen kommt nach Angaben des Blattes
zu dem Ergebnis, dass Ostdeutsche mit ungefähr fünf bis neun Prozent
der Elitepositionen bei einem Bevölkerungsanteil von rund 17 Prozent
nur die Hälfte der Führungspositionen besetzen, die sie eigentlich
besetzen müssten. In den westdeutschen Landesregierungen sitze mit
Johanna Wanka lediglich eine Ostdeutsche, während in den ostdeutschen
Landesregierungen 30 Prozent Westdeutsche säßen. Im Gegensatz zu den
neunziger Jahren, als es drei waren, komme heute kein einziger
Bundesminister mehr aus den neuen Ländern. Bei rund 200
Bundeswehr-Generälen aus dem Westen gebe es einen weiblichen General
aus dem Osten. Besonders krass sei das Missverhältnis in der
Wirtschaft: Zwei ostdeutschen Vorständen in Dax-Unternehmen stünden
demzufolge mehr als 180 westdeutsche Vorstände gegenüber.

Kollmorgen führt den Zustand darauf zurück, dass Eliten „dazu
neigen, sich selbst zu reproduzieren, weil man sich wechselseitig
kennt. Für die Ostdeutschen kommt das Problem der Habitus-Fremdheit
hinzu. Auch die heute 35- bis 50-Jährigen bringen nach wie vor eine
kulturelle Fremdheit ein. Das gilt für Kleidung, Auftreten, Sprache
und Gestik bis hin zum Musikgeschmack. Dieses Set an kulturellen
Selbstverständlichkeiten ist bei vielen Ostdeutschen noch nicht da.
Das bewegt die entsprechenden Gremien, sie weiter hinten zu
platzieren.“ Die Ostdeutschen reagierten auf diese Situation mit
einer Anpassung ihrer eigenen Karriereerwartungen, so der Soziologe.
Daraus folge „eine defizitäre Demokratie, weil bestimmte
Interessenlagen und Kulturen nicht angemessen eingebracht werden
können in die Gestaltung des Gemeinwesens“.

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Mitteldeutsche Zeitung
Hartmut Augustin
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