Der renommierte Berliner Historiker und Publizist
Ilko-Sascha Kowalczuk kritisiert aus Anlass des 25. Jahrestages des
Mauerfalls vehement die institutionellen Bedingungen zur Erforschung
der DDR. „Es gibt keine Lobby für die DDR-Forschung“, sagte Kowalczuk
der in Halle erscheinenden „Mitteldeutschen Zeitung“, die am Sonntag
eine 68-seitige Sonderausgabe zum Mauerfall-Jubiläum veröffentlicht.
„In diesem großen reichen Land gibt es Lehrstühle für die Geschichte
Vietnams oder die Gegenwart von Nepal, und das ist alles absolut
richtig. Aber es gibt keinen einzigen Lehrstuhl für die Geschichte
der DDR. Das halte ich schon für bedenklich.“ Kowalczuk begründet:
„Die meisten Universitäten, die Geschichte lehren, bilden
Geschichts-lehrer aus. Und wenn die an den Universitäten kein Wissen
über die DDR erhalten, können sie das nicht in den Schulen
weitergeben. Das ist eine Kette, die ich unerträglich und
unerklärlich finde. Man könnte ja Lehrstühle zur Geschichte des
Kommunismus oder zur Geschichte von Diktaturen einrichten. Aber
nichts geschieht.“ Der Mangel an wissenschaftlicher DDR-Forschung
führe laut Kowalczuk zu einer fortgesetzten „Schieflage“ in der
öffentlichen DDR-Reflexion. „Und das ist doch das Problem, dass wir
uns unentwegt in den Medien unsere Vergangenheit von Sportlern,
Schlagersängern, Schauspielern oder irgendwelchen Leuten erklären
lassen müssen, die wir schätzen, aufgrund ihrer Profession, aber doch
nicht aufgrund ihrer historischen oder politischen oder
philosophischen Einsichten. So funktioniert aber die Medienwelt. Das
ist total gaga. Kein Mensch muss sich von einer Sängerin die
Vergangenheit erklären lassen. So kommen die Schieflagen herein.“
Kowalczuk, Jahrgang 1967, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. Er veröffentlichte unter anderem
die Büchern „Stasi konkret“ und „Endspiel. Die Revolution von 1989 in
der DDR“.
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Hartmut Augustin
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