Neue OZ: Kommentar zu Bundespräsident / Wahlen

Nicht makellos

Gebt die Wahl frei, fordert Kurt Biedenkopf. Er wirft damit
indirekt beunruhigende Fragen auf: Trägt die Abstimmung über den
Bundespräsidenten etwa einen Makel? Mangelt es dem Staatsoberhaupt an
demokratischer Legitimation?

Tatsächlich ist das Wahlverfahren nicht makellos. Zwar wird der
Präsident von einer mehr als tausendköpfigen Bundesversammlung
gewählt. Auch ist die Abstimmung geheim und unterliegen die
Wahlmänner und -frauen keinerlei Fraktionszwang. Anders als im
Bundestag darf also niemand gedrängt werden, einem bestimmten Kurs zu
folgen. Doch ist dabei vieles graue Theorie. In der Praxis gibt es
immer wieder deutlichen Druck auf die Mitglieder der
Bundesversammlung. Denn selbstverständlich ist es ein bedeutendes
politisches Signal, wenn der Kandidat der einen oder anderen Seite
gewinnt oder verliert. Aktuell verbinden viele Politiker und
Beobachter damit sogar die Frage, ob die schwarz-gelbe Koalition hält
beziehungsweise zerbricht.

Dementsprechend intensiv wird um jede Stimme geworben und werden
Wahlleute besonders nach dem Gesichtspunkt der Zuverlässigkeit (um
nicht zu sagen, der Linientreue) ausgesucht. Wirklich frei dürften
sich viele von ihnen nicht fühlen. Da der Bundespräsident aber über
den Parteien stehen und das Oberhaupt aller Deutschen sein soll, ist
Biedenkopfs Ruf nach einer Freigabe der Wahl nur allzu berechtigt. Er
wäre freilich deutlich beeindruckender, wenn der Christdemokrat schon
in seiner Zeit als aktiver Politiker ähnlich parteiunabhängig geredet
hätte.

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