Wunsch und Wirklichkeit
In Berlin zelebriert die Anti-Atom-Bewegung ihre
Wiederauferstehung. In Stuttgart demonstrieren Massen gegen einen
Bahnhof. Und der Ex-Banker Sarrazin erfährt breite Zustimmung an der
Basis von SPD und CDU, während die Parteispitzen seine Thesen in
seltener Eintracht zurückweisen. Schon kommen Experten und Magazine
daher, zimmern aus den Ereignissen einen Trend und sprechen von einer
Welle des Protestes: Bürgerwille kontra etablierte Parteien, so der
Tenor dieser Thesen.
Damit endet die Gemeinsamkeit aber auch schon. Die Kernkraftgegner
sind eher links, Sarrazins Freunde eher rechts, die Bahn-Protestierer
jeglicher Couleur. Gegen Protestwellen der Vergangenheit –
Friedensdemos, Metallerstreiks, Studentenbewegung – nehmen sich die
Projekte ebenfalls eher niedlich aus, vom internationalen Vergleich
ganz zu schweigen. Auch das potenzielle Spitzenpersonal, dem
Demoskopen führende Rollen in einer Populistenpartei zutrauen, ist
eine schräge Mischung: Da ist Merz, der Nüchterne, da ist Sarrazin,
der Polarisierer, da ist Steinbach, die Schrille. Wer glaubt, eine
solche Sammlung von Charakteren könne einigermaßen gedeihlich
zusammenarbeiten, stellt seinen Wunsch wohl über die Wirklichkeit.
Ganz so schnell wird das deutsche politische Gefüge also nicht
wanken. Und fürs Erste bleibt ein positiver Aspekt: ein offenbar
wieder erstarkendes Interesse an Politik und Protest, das allemal
besser ist als die angepasste Teilnahmslosigkeit einer Herde Schafe.
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