Wutbürger wohin man schaut: Die Griechen wüten
gegen die Auswirkungen der Finanzkrise, Spaniens Jugend fordert
Beschäftigung ein, die Italiener erteilen der Atomkraft eine Absage
und die Deutschen streiten wie immer gegen fast jeden und nahezu
alles. Eigentlich fehlen nur noch die Franzosen, damit der Satz
Gewicht bekommt: Europa ist geeint wie nie im Protest gegen Politik
und Politiker. Ursache dieser Welle ist nicht die schiere Lust am
Protest, sondern ein über die Jahre und Jahrzehnte gewachsenes Gefühl
der Ohnmacht. Die Bürger sind unzufrieden über den Umgang der
Politiker mit ihren Teilhaberechten. Lange, viel zu lange glaubten
Politiker, den Stein der Weisen gefressen zu haben und vergaßen die
Intelligenz der Vielen zu nutzen. Statt die Grundlagen ihrer
Entscheidungen offenzulegen und zu erklären und darüber den Dialog
mit den Bürgern zu führen, wurden Abstimmungsmaschinen in Gang
gesetzt, die erst Rat- und Hilflosigkeit, später Ohnmacht und Wut
auslösten. Dabei soll doch seit der Aufklärung der Citoyen, also der
Staatsbürger, aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnehmen
und es mitgestalten. Nicht von ungefähr wurde das Adjektiv
„alternativlos“ zum Unwort des Jahres gekürt. Das Wort gehört zum
Sprachschatz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die aus der
experimentellen Physik besseres wissen müsste. Jüngst erfuhr sie es,
als sie auf Grund des Meinungsbilds der Bürger den Ausstieg aus dem
Atomausstieg revidieren musste. Es gibt eben doch immer eine
Alternative. Davon sind übrigens auch die Griechen überzeugt, die
sich derzeit dem Diktat ihrer und der Politiker Europas unterworfen
sehen. Die repräsentative Demokratie ist in einer Krise, weil sie
jede Einbeziehung oder auch nur Nachfrage der Bürger als Störung
empfindet. Entsprechend reagieren die Bürger, in dem sie sich mit
Volksbegehren und Bürgerentscheiden gegen Beschlüsse von Räten und
Parlamenten zur Wehr setzen und politische Beschlüsse rückgängig
machen. Andernorts aber ist ein konstruktives politisches
Bürgerengagement möglich, wie das Beispiel der von der
Bertelsmann-Stiftung mit dem Reinhard-Mohn-Preis ausgezeichneten
brasilianischen Stadt Recife zeigt. Ernsthafte
Beteiligungsmöglichkeiten, echte Mitbestimmung über die Verwendung
von Haushaltsmitteln sind eine sinnvolle, praktikable und zudem
effiziente Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Mehr Basisnähe
macht Entscheidungen nicht nur transparenter, sondern auch zum Votum
aller. Dies zu erreichen braucht es mehr als ein ein neues
Verwaltungsverfahrensgesetz, das Merkel in Gütersloh ankündigte.
Notwendig ist eine Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung. Werte,
die zum Kulturerbe Europas gehören und wiederbelebt werden müssen.
Aus Wutbürgern können Mutbürger werden, wenn sie bürgerschaftlich
handeln dürfen. Dass sie dazu bereit sind, zeigen Erfahrung und
Umfragen.
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