Neue Westfälische (Bielefeld): Grüner Aufschwung Mit Risiken und Nebenwirkungen ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Für Gerhard Schröder war es klar: Bei Rot-Grün
ist die SPD der Koch und die Grünen der Kellner. Doch die jüngsten
Umfragen nähren Zweifel: Übernimmt der Kellner nun bald auch das
Kochen? Was ist der Grund für den Höhenflug der einstigen
Anti-Parteien-Partei? Die grünen Ursprungsthemen sind in aller Munde:
Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Klimawandel, Nein zur Atomkraft. Wie
eifrig sich mittlerweile auch die sogenannten Bürgerlichen um
Baumbestand und seltene Tierarten sorgen, zeigt der Protest gegen das
Bahnprojekt „Stuttgart 21“. Dass wir in einer „Dagegen“-Republik
leben, hat allgemein mit dem Ansehensverlust von Politik und speziell
mit Schwarz-Gelb zu tun. Alles was diese Bundesregierung tut, steht
mittlerweile unter dem Generalverdacht einflussreiche Lobbys zu
bedienen – von der Steuerermäßigung für Hoteliers bis zu den
Geheimverhandlungen mit der Atomlobby. Nicht einmal die gute
Konjunktur reicht aus, um den galoppierenden Ansehensverlust zu
stoppen. Gegen eine Regierung, der nur eine Minderheit vertraut,
wirken die einstigen Alternativen wie der Hort an Glaubwürdigkeit.
Schon immer waren sie gegen Atomkraft oder gegen Stuttgart 21. Diese
Prinzipientreue zahlt sich nun aus. Auch weil die Konkurrenz
schwächelt. Die CDU erscheint zunehmend beliebig. Die SPD ist noch
auf demSelbstfindungstrip. Die FDP ist vielen zu einseitig, und die
Linke wird als heillos verknöchert empfunden. Die Grünen haben
Prinzipien, aber jeder weiß, dass sie auch Kompromisse schließen
können. Wenn es sein muss, ziehen sie sogar in den Krieg. Aber vorher
reden sie ausführlich darüber. Die größte Stärke der Grünen ist immer
noch ihre Diskussionsfähigkeit. Keine andere Partei hat sich je mit
dem Für und Wider der Sachen so intensiv und stellvertretend für alle
auseinandergesetzt wie die Grünen. Die Ökopartei sagt derzeit zu
vielem Nein. Das kommt prima an. Im Protest des Bürgertums schwingt
unübersehbar ein nostalgisches Sehnen nach heiler Welt mit. Dieses
Gefühl bedienen die Grünen ohne Probleme. Aber bei einem Land mit 80
Millionen Menschen stößt der Wunsch nach Idylle schnell auf Grenzen.
Sogar das Zeitalter der Erneuerbaren Energien kommt ohne
infrastrukturelle Riesenprojekte wie zum Beispiel neue
Überlandleitungen nicht aus. Unter Garantie gibt es auch dagegen
wütende Proteste. Aber dann werden die Grünen Ja sagen müssen. Denn
eine Volkspartei mit einer Verantwortung für das große Ganze zu sein,
heißt auch, sich gegen populäre Stimmungen zu stellen. Das Wachstum
der Grünen birgt also auch Risiken und Nebenwirkungen. Auch weil die
Partei gerade völlig unterschiedliche Kreise anlockt: enttäuschte
Konservative zum Beispiel. Aber auch Leute, die die Proteste
radikalisieren möchten – man denke an den Tortenwurf auf Jürgen
Trittin. Nach allen Seiten offen zu sein und sich gleichzeitig treu
zu bleiben: Ob den Grünen dieser Spagat, wenn sie tatsächlich
Volkspartei würden, besser gelänge als der SPD und der Union?

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