Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Abstimmung über den Rettungsschirm Marathon STEFAN SCHELP

Heute ist Europa-Tag. Weil heute der Bundestag
abstimmt über den Rettungsschirm für Euroländer in Not. Dies ist der
Tag, der den Anfang vom Ende der europäischen Sinnkrise markieren
könnte. Dies ist die Entscheidung, die den Schlusspunkt setzen könnte
hinter unerträglich langes Taktieren, ewiges Gerede und aufkommenden
Nationalismus. Manch einer vergleicht die Entscheidung über die
deutsche Beteiligung am 780 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm
daher mit der Abstimmung über die Neuausrichtung der deutschen
Ostpolitik. Beide Entscheidungen drohten die Gesellschaft zu spalten,
beide waren und sind von einer Tragweite, die keiner der Abgeordneten
im deutschen Bundestag bis in ihre letzte Konsequenz abschätzen kann.
Zumindest die Ostpolitik veränderte die bundesrepublikanische
Gesellschaft nachhaltig. Schon aufgrund der Tragweite der
Entscheidung ist es unredlich, die „Abweichler“, die heute mit „Nein“
stimmen wollen, in Bausch und Bogen zu verdammen. Gestehen wir ihnen
zu, dass ihr Entschluss auf einer Gewissensentscheidung beruht und
hoffentlich nicht nur auf kurzsichtigem politischen Taktieren. Denn
so viel ist klar. Wer leichtfertig dafür votiert, Griechenland in die
Insolvenz zu jagen, riskiert eine Menge. Wer behauptet, auch in der
Vergangenheit seien Staaten gestärkt aus der Pleite hervorgegangen,
der verkennt die dramatisch veränderten Rahmenbedingungen. Stürzt
Griechenland ab, rutscht mindestens Europa hinterher. Viel zu eng
sind die europäischen Ökonomien untereinander vernetzt, ist das
Bankensystem miteinander verwoben. Der Untergang Griechenlands wäre
eine Katastrophe für ganz Europa. Und dies keinesfalls nur für die
Wirtschaft Europas. Die Architekten der Europäischen Union setzten
einst darauf, dass auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa
die gemeinsame Währung der erste Schritt sein müsse. Wirtschafts- und
noch später die politische Union sollten folgen. Das war damals
richtig. Die Einführung des Euros hat vor elf Jahren überraschend gut
geklappt, eine Erfolgsgeschichte nahm damals ihren Anfang. Aber haben
wir erwartet, dass die Sonne auf ewig über dem Euro lacht? Wer in der
Krise die Segel streicht, wer klein beigibt, der verrät die
europäische Idee. Der gibt den Traum vom gemeinsamen Europa auf. Wer
aber zur Stange hält, braucht Durchhaltevermögen. Denn die Rettung
Griechenlands funktioniert nicht im Sprint. Tatsächlich wird nicht
nur den Griechen, sondern allen Europäern ein Marathon abverlangt –
um im historischen Bild zu bleiben. Bei diesem Langstreckenlauf geht
es im Übrigen keineswegs nur um die unvorstellbare Summe von 780
Milliarden Euro. Es geht um Menschen. Wenn es Politikern,
Entscheidungsträgern und Meinungsführern nicht gelingt, den Menschen
neue Begeisterung für Europa einzuimpfen, sind alle Milliarden
verloren. Ganz egal wie der Bundestag heute abstimmt.

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