Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Armenhaus Nordrhein-Westfalen Ein Makel FLORIAN PFITZNER, DÜSSELDORF

In ihrer Antrittsrede hat sie das Thema direkt
zur Chefinnensache erklärt. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft sagte der Armut vor vier Monaten den Kampf an, indem
sie ihr vertrautes Mantra zur Vision des rot-grünen Bündnisses erhob:
Düsseldorfs Koalitionäre müssten häufiger vorausschauend handeln und
am Ende jedes Kind an die Hand nehmen. Kurz bevor die Christenheit
die Geburt des Heilands feiert, rufen einem nun die Sozialverbände
die Mühsal dieser Aufgabe mit Wucht ins Gedächtnis. Deutschland ist
eine der wohlhabendsten Nationen der Welt, die Arbeitslosenquote
sinkt. Und dennoch besteht eine hohe Gefahr zu verarmen, wenn auch
relativ. Wie der Paritätische Wohlfahrtsverband in dieser Woche
mitteilte, ist fast jeder siebte Einwohner von Armut bedroht, die Not
ballt sich vor allem im Ruhrgebiet. In NRW habe sich der negative
Trend nicht nur fortgesetzt, sondern bedenklich verschlechtert, sagte
Verbandschef Ulrich Schneider. In einzelnen Städten ist eine immense
Dramatik zu erkennen. In Dortmund stieg die Gefahr zu verarmen seit
2005 um 30 Prozent, in Duisburg um 45 Prozent und in Essen um satte
57 Prozent. Im Land des Jobwunders bleiben Millionen Menschen vom
Aufschwung der vergangenen drei Jahre abgehängt. Das ist ein herber
Makel für NRW und die Bundesrepublik. Arm sind vor allem die Jungen,
Kinder von Alleinerziehenden und Einwanderern. Bei ihnen und ihren
Eltern ist das Risiko, „hartzen“ zu müssen, besonders hoch. Kinder
wachsen in emotionalen Krisenherden auf. „Einmal unten – immer unten“
ist hierzulande eine häufig zutreffende Formel. Kaum eine
Gesellschaft in der industrialisierten Welt ist sozial derart starr
wie die deutsche, zeigt eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung.
Überdies sind zahlreiche Jobs inzwischen so schlecht bezahlt, dass
sich Niedriglöhner ebenfalls als arm bezeichnen müssen. Doch „arm“
und „reich“ sind auch politische Kampfbegriffe; in Deutschland
reduzieren sie Sozialfragen allein auf einen Aspekt: die Höhe des
Nettoeinkommens. Dabei ist das wahre Elend die Armut im Geiste.
Weitaus bedrückender als das leere Portemonnaie ist die düstere
Perspektive, ausgeschlossen zu sein, fern der Aussicht, irgendwann
einmal den sozialen Anschluss wiederzufinden. Es ist eine triviale
Erkenntnis, dass Bildungsarmut der entscheidende Nachteil der
Unterschicht ist. Und trotzdem scheint sie nicht überall
durchzudringen. Während sich die Bundesregierung mit Diskussionen
über Zuschussrente, Betreuungsgeld und Lohnuntergrenzen verzettelt,
hat NRW trotz aller Unkenrufe über die „Wohlfühlversprechen“ der
rot-grünen Landesregierung verstanden, wo der Hebel anzusetzen ist.
Allein der desolate Landesetat lässt den Koalitionären derzeit kaum
finanziellen Spielraum, um weitsichtige Präventionspolitik zu
betreiben. Ihr Kabinett habe den Mut, über Wahlperioden
hinauszudenken, sagte Kraft. Fünf Jahre werden in der Tat kaum
reichen, um ihre Vision mit Leben zu füllen.

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