Es geht das Gespenst eines Bundeskanzlers um,
der zum ersten Mal seit Bestehen der Republik nicht aus CDU oder SPD
stammen könnte. Wenn man den Umfragen der Woche glauben darf, dann
wird die Politik der Republik auf den Kopf gestellt. In
Baden-Württemberg wird es den ersten grünen Ministerpräsidenten
geben. In Berlin liegt die Spitzenkandidatin der Grünen, Renate
Künast, vor dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD).
Bundesweit liegen die Grünen fünf Punkte vor der SPD und nur noch
zwei hinter der CDU. Auch in NRW verliert die SPD sechs Punkte, die
Grünen legen gleich viel zu. Nichts ist mehr, wie es war, seit der
Atomkatastrophe von Japan. Ist Japan – und damit eine typisch
deutsche Angst – der Grund für diese Zahlen? Oder öffnet Japan nur
den Blick für die Schwäche unseres politischen Systems? Viele
Indizien sprechen für die zweite Erklärung: 1. Werte-Verlust. Die
Parteien, mit Ausnahme der Grünen, lassen nicht mehr hinreichend
erkennen, wofür sie stehen. Union und SPD sind sich im Streit um
Detail- und Machtfragen so ähnlich geworden, dass man das
identitätsbildende Werte-Fundament kaum noch erkennt. Die SPD
verschüttet ihre Tradition als Partei des Aufstiegs hinter den
Grabenkämpfen um Hartz IV. Die Union übt den Atom-Kniefall vor den
Stromkonzernen und erschreckt sich nun, dass sie weniger Wähler
glaubhaft davon überzeugen kann, die Partei der christlichen
Schöpfungsgeschichte zu sein. 2. Fehlendes Leadership. Führungen
müssen Entscheidungen treffen und vertreten. Das erst macht sie zu
respektablen Figuren der Politik. Wir erleben das Gegenteil: Eine
Kanzlerin, die den Herbst der Entscheidungen angekündigt hatte,
verabschiedet sich mit einer Handbewegung von der dort beschlossenen
Verlängerung der Atomlaufzeiten. Der britische Ex-Premier Tony Blair
definiert Führung als Entscheidung, aus der alle weiteren Schritte
abgeleitet werden. Nur eines kann und darf solches Leadership nicht:
zum Ausgangspunkt zurück. Das ist Führungsversagen. 3. Kein
Commitment. Die etablierte politische Führung verpflichtet sich nicht
mehr wie früher auf Grundsätze. Stattdessen wabert sie hin und her
zwischen den Umfragewerten und den Befindlichkeiten der Bürger und
Bürgerinnen. Das lässt die Menschen im Ungewissen über den Kurs von
Regierungen und Parteien, wo sie Gewissheiten brauchen und suchen.
Auch die Grünen sind an ihren Inhalten gescheitert, wie ihre Abwahl
in Hamburg zeigt. Aber in der Wählerschaft, das zeigt das Beispiel
Atompolitik, werden sie derzeit wahrgenommen als einzige
werte-orientierte Alternative zur herrschenden Politik. Und zwar
unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht. Die Krise der politischen
Klasse indes wird durch die Grünen allenfalls gemildert, nicht
gelöst. Man sucht jene Führungsfiguren, die dazu die Kompetenz
hätten, wie sie Adenauer, Brandt, Schmidt und wohl auch Kohl und
Schröder hatten. Sie sind – derzeit – schwer zu finden.
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