Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Israel und der Wandel im Nahen Osten Beredtes Schweigen BERNHARD HÄNEL

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat seinen
Ministern und Sprechern einen Maulkorb verhängt. Das Schweigegebot
zeigt beredt, wie groß Israels Sorge vor einer ungewissen Zukunft im
Nahen und Mittleren Osten im Allgemeinen, bei den unmittelbaren
Nachbarn des Staates der Juden im Besonderen ist. Die alte Ordnung
scheint hin, welche stattdessen gelten wird, ist ungewiss. Für Israel
eine schwierige, vielleicht sogar eine bedrohliche Situation. Deren
Ausmaß zu ermessen, bedarf es eines Blicks auf die Entwicklung in
Ägypten, das Westjordanland und Gaza, Jordanien, Syrien sowie den
Libanon. Überall herrscht Bewegung, greifen große Veränderungen:
Freiheitsbewegungen in Ägypten, vielleicht auch bald in Syrien,
soziale Proteste und Demokratisierungsforderungen in Jordanien,
wachsende Unterdrückung durch Islamisten unterschiedlicher Couleur im
Gaza-Streifen und im Libanon sowie leicht radikalisierbare
Verzweiflung im palästinensischen Flickenteppich des Westjordanlands.
Gründe für das Schweigen Israels gibt es reichlich. Doch in Zeiten
des Wandels ist Stillstand die falsche Reaktion. Klüger wäre es
allemal, die Tage und Wochen der Ungewissheit zu nutzen zur Analyse
der eigenen Politik in den vergangenen Jahren. Eine selbstkritische
Fehleranalyse könnte nützlich dabei sein, seine Politik neu
auszurichten auf die Zeit nach dem Abgang vertrauter Freunde und
Feinde in den Nachbarländern. Zur Fehleranalyse gehörte zum Beispiel,
wie man es dazu kommen ließ, das über Jahrzehnte gewachsene
freundschaftliche Verhältnis zur Türkei zu zerrütten. Der nachhaltig
gestörte Kontakt zu einem der wichtigsten Staaten der islamischen
Welt darf kein Dauerzustand bleiben. Nachdenken muss Israel ebenso
über die vielen vertanen Chancen zu Übereinkünften mit seinen
Nachbarn. Beispiel Syrien: Das Ende des Streits über die Golanhöhen
war ausgehandelt bis zum letzten Quadratzentimeter. Es fehlten nur
die Unterschriften. Beispiel Westjordanland: Dank der
Veröffentlichung geheimer Protokolle über die Gespräche zwischen
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dem damaligen israelischen
Ministerpräsidenten Ehud Olmert wissen wir, wie weit die
Konfliktlösung zwischen Israel und den Palästinensern 2008/09
gediehen war. Frieden war mit den Händen zu greifen. Israel ließ auch
diese Chance aus und setzte stattdessen weiter auf den Siedlungsbau
in den Palästinensergebieten. Statt sich einzuigeln, sollte Israel
einen Befreiungsschlag wagen. Mahmud Abbas ist ein alter Mann. Seine
Hand ist ausgestreckt. Wer und was nach ihm kommt, ist ungewiss.
Netanjahu davon zu überzeugen, über seinen Schatten zur springen,
wäre Aufgabe des Nahost-Quartetts von USA, EU, UN und Russland. Statt
am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz sollte das Quartett auf
der grünen Grenze in Jerusalem tagen. Das könnte ein beruhigendes
Signal an die Menschen im unruhigen Nahen Osten sein.

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