Im März, kurz nach der Verhaftung, ist das
öffentliche Urteil schon gesprochen: schuldig. Einen ganz schlimmen
Vergewaltiger haben die Ermittler da eingebuchtet. Einen, der sich
hinter der lächelnden Maske des Traumschwiegersohns verbirgt. Und
dann wird auch noch in allen intimen Details breit getreten, dass
Jörg Kachelmann in Liebesdingen ein Doppel-, wenn nicht ein Vier-
oder Sechsfachleben geführt hat. So einem ist alles zuzutrauen. Auf
die klassische öffentliche Vorverurteilung folgt im Juni der
vorauseilende Freispruch. Wieder ist das allgemeine Urteil eindeutig:
unschuldig. Es braucht nur ein paar Zitate aus einem Gutachten, die
die Aussagen des mutmaßlichen Opfers in Zweifel ziehen, und fest
steht: Da ist einer ohne jede Schuld eingebuchtet worden, ein
sympathisches Schlitzohr leidet unter der Rache einer eifersüchtigen
Frau. Sogar die blauen Flecken soll sie sich nun selbst beigebracht
haben. Im Juli eröffnet das Gericht das Verfahren gegen Kachelmann –
offenbar wiegen die Indizien der Staatsanwaltschaft so schwer, dass
es für eine Anklage reicht. Schuldig also. Und jetzt die Freilassung.
Doch unschuldig? Oder schuldig? Kaum jemand, der dazu keine Meinung
hätte. Die Akten gesehen hat keiner von denen, die jetzt schon genau
wissen, wie der Prozess ausgehen wird. Dabei verbietet sich eine
Vorverurteilung im Fall Kachelmann ebenso wie der voreilige
Freispruch – er würde schließlich bedeuten, die Ex-Freundin einer
schweren Straftat zu beschuldigen. Auch auf falsche Verdächtigung
stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Das Urteil über Schuld und
Unschuld obliegt in einem Rechtsstaat dem Gericht, und nur dem. Der
öffentliche Pranger ist eigentlich abgeschafft – für einen
Prominenten wie Kachelmann ebenso wie für die Frau, die ihn belastet.
Beide aber stehen abwechselnd schon seit Monaten daran.
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