Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Bundespräsident Gauck verzichtet auf zweite Amtszeit Die Machtfrage Thomas Seim

Bundespräsident Joachim Gauck will im Februar
2017 nicht noch einmal antreten. Dafür hat er hohen Respekt verdient.
Gauck hat dem höchsten Staatsamt nach den beiden amtsflüchtigen
Vorgängern Köhler und Wulff die Würde zurückgegeben. Für die
Koalitionsregierung aus Union und SPD sind der Zeitpunkt von Gaucks
Entscheidung, vor allem aber der Zeitpunkt der Wahl eines
Nachfolgers, denkbar schlecht. Drei Monate vor der Landtagswahl in
NRW und sieben Monate vor der Bundestagswahl muss ein
mehrheitsfähiger Kandidat – oder eine Kandidatin – gefunden werden.
Keine der Koalitionsparteien verfügt über eine eigene Mehrheit. Es
werden also Bündnisse gebraucht. Sie werden auch Hinweise auf eine
mögliche Koalition nach der Bundestagswahl geben. Die schwierigste
Aufgabe kommt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel zu. Sie hat bislang
in der Präsidentenfrage keineswegs eine glückliche Hand gehabt.
Sowohl Horst Köhler als auch Christian Wulff waren jeweils ihre
Vorschläge. Beide sind am und im Amt gescheitert. Gauck wiederum ist
gegen den Willen Merkels von SPD und Grünen fürs Amt empfohlen und am
Ende mit den Stimmen der FDP durchgesetzt worden. Die FDP war dafür
2012 sogar kurz das Risiko eines Koalitionsbruchs mit der Union
eingegangen. Merkel steht vor der Quadratur des Kreises. Sie braucht
einen eigenen Kandidaten für die Union, dem auch ihre Kritiker, allen
voran CSU-Chef Horst Seehofer, zustimmen. Findet sie ihn – zum
Beispiel mit Seehofer selbst oder Edmund Stoiber aus der CSU, mit
Norbert Lammert oder Ursula von der Leyen aus der
CDU -, hat
sie noch keine eigene Mehrheit in der Bundesversammlung. Sie braucht
entweder einen Partner, oder sie setzt darauf, dass die Wahl mit
einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang entschieden wird. Die SPD wird
nach Lage der Dinge einen Unionskandidaten kaum mittragen. Ein
Kandidat, der der Kanzlerin zugleich die neue Machtoption
Schwarz-Grün öffnen könnte, wäre Baden-Württembergs Ministerpräsident
Winfried Kretschmann. Der allerdings wäre trotz seiner Koalition mit
der Union auch ein rot-grüner Kandidat. Auch einem solchen Bündnis
stand Kretschmann schon vor. Der Druck auf Merkel jedenfalls ist
groß. Und eine Antwort scheint sie bislang nicht zu haben. Das zeigen
die zahlreichen Forderungen aus der Union, keine übereilten
Vorschläge zu machen. Und die SPD? Merkels Koalitionspartner kann
nicht einfach abwarten. Wenn sie einen eigenen Machtanspruch hat,
muss sie ihn jetzt deutlich machen und zeigen, ob sie dafür eine
Mehrheit – zum Beispiel eine rot-rot-grüne – finden kann.
Frank-Walter Steinmeier wird immer wieder genannt. Aber auch
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wäre ein sehr respektabler
Kandidat. Er könnte dem Thema Europa neuen Schwung auch in
Deutschland geben und würde auch dann mehr Gewicht in der SPD
gewinnen können, wenn er es nicht an die Staatsspitze schaffte. Die
Präsidentenwahl hat seit je Einfluss auf eine der wichtigsten
Machtfragen in der Republik. Uns erwartet also eine politisch äußerst
spannende zweite Jahreshälfte 2016.

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