Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Die SPD und die GroKo Historische Herausforderung Thomas Seim

Die beiden großen staatstragenden Lager der
Republik haben ihren Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht. Sie
wollen nicht mehr miteinander. Aber ohne einander können sie auch
nicht. Vor allem Bundeskanzlerin Merkel und die Union haben dies
leidvoll in den gescheiterten Gesprächen zu Jamaika mit Grünen und
vor allem mit der FDP lernen müssen. Insbesondere die FDP unter
Führung von Christian Lindner scheint mit ihren eher parteitaktischen
Spielchen dieser – durchaus historischen – Herausforderung nicht
gewachsen zu sein. Für die SPD kam dies überraschend. Sie hatte sich
bereits auf ihre Oppositionsrolle eingestellt, als Bundespräsident
Steinmeier sie neu in die Pflicht nahm. Den Funktionären ist ein
Bündnis mit der Union zuwider. Das ist durchaus nachvollziehbar bei
den Erfahrungen der Zusammenarbeit mit Merkel und der
Demobilisierungsstrategie der Union. Von morgen an ringt die SPD nun
auf ihrem Parteitag mit dem Regierungsanspruch an sie. Politisch
steht sie bei einer Abwägung der Alternativen vor einfachen
Entscheidungen: Verweigert sie sich jeglicher Zusammenarbeit mit der
bisherigen Partnerin, um Neuwahlen zu erzwingen, stünde dem ein
verfassungstreuer Bundespräsident entgegen, der diesen Weg nicht
freimachen könnte, sondern eine Kanzlerin Merkel mit einer
Minderheitsregierung beauftragen würde. Übrigens wäre derzeit auch
ein besseres SPD-Wahlergebnis wohl eher unwahrscheinlich. Merkel und
die Union wären in der komfortablen Lage, sich für alle ihre Projekte
jeweils den Partner zu suchen, den sie für eine Mehrheit brauchten.
Noch dramatischer wäre dies für eine von der SPD geduldete
Minderheitsregierung, die auf bestimmte Projekte festgelegt wäre.
Entlang einer solchen Duldung wären Union und Merkel als autonome
Regierung handlungsfähig. Merkel könnte ihre Nachfolger in Ruhe
profilieren. Die SPD wäre ausgegrenzt und gleichwohl in der
Mitverantwortung. Wie man es auch dreht: Die Optionen der Partei sind
– ohne Emotionen betrachtet und auf Ziele sozialdemokratischer
Politik gerichtet – in den von Steinmeier angeregten Gesprächen zu
einer neuen großen Koalition am größten. Merkel und Seehofer brauchen
die SPD. Das bietet ihr die Chance, sich in der Regierung zu erneuern
und die Richtung der Republik in eine an ihren Grundwerten
orientierte Politik zu lenken: Abkehr vom Wachstumszwang, Umdenken
von Masse zu Qualität oder – wie es der alte sozialdemokratische
Vordenker Johano Strasser formuliert – vom Immer-Mehr zum
Immer-Besser. Sicherheit im Wandel – damit hat die SPD bereits 2002
eine Mehrheit bei Wahlen drehen können. Das ist die Chance und die
Herausforderung der Partei in einer Koalition, die es ohne sie nicht
geben kann. Unter einer geschwächten Kanzlerin, die letztmals ins Amt
käme. Mit der Perspektive einer SPD-Kanzlerschaft bei der nächsten
Bundestagswahl.

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