Die Proteste werden lauter, der Ton rauer.
Überall, wo in Deutschland unterschiedliche Interessen aufeinander
stoßen, scheint schnell blanker Zorn, fast Hass zu entstehen. Alle
Seiten greifen zu radikalen Formulierungen, hören der anderen Seite
nicht zu, sondern beschimpfen sie. Schwarz-Weiß-Denken ist angesagt,
nicht Informieren, Differenzieren und Abwägen. Niemand ist mehr in
der Lage oder bereit, sich in die andere Perspektive zumindest
hineinzuversetzen. Das hieße ja nicht, sie gleich zu übernehmen. Es
fehlt schlicht der Respekt davor, dass ein anderer Mensch auch andere
Positionen und Interessen hat. Das gilt für die Debatte um den
Bahnhof Stuttgart 21 genauso wie für die Integrationsdebatte, den
Umgang mit Langzeitarbeitslosen, den Streit um die Castortransporte
und die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke und das Bild der
Politiker in der Öffentlichkeit. Mit welch menschenverachtenden
Worten auf Politiker („die da oben“) eingedroschen wird, ist
erschreckend. Leserbriefe, die auch die Redaktion dieser Zeitung
täglich erreichen, können kaum veröffentlicht werden, weil sie außer
Politiker-Beschimpfungen kaum etwas bieten. Damit kein
Missverständnis aufkommt: Natürlich gibt es Situationen, Prozesse und
Beschlüsse, die kritikwürdig sind. Es gibt das gute Recht der
Bürgerinnen und Bürger, gegen Stuttgart 21 zu sein oder gegen
Castortransporte. Man kann auch mit der Integrationspolitik
unzufrieden sein. In einer Demokratie gehört die kontroverse,
anstrengende Diskussion dazu. Aber in der Auseinandersetzung zum
Beispiel um die Ausstattung von Arbeitslosengeld II ist es wenig
hilfreich, den Empfängern pauschal vorzuwerfen, sie seien
Drückeberger, noch den Politikern, sie selbst seien als Raffkes ja
gut versorgt und gingen kalt über die Ärmsten der Armen hinweg. Die
große Mehrheit der Politiker in allen Parlamenten, angefangen im
Gemeinderat, hat das beste im Sinn. Die meisten Arbeitslosen wünschen
sich nichts mehr, als wieder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen
zu können. Ausnahmen gibt es auf allen Seiten. Misstrauen führt in
diese Dissensdemokratie. Wenn einmal nach langen Mühen im Konsens
beschlossene Dinge plötzlich aufgrund neuer Einzelinteressen wieder
aufgemacht werden, geht Vertrauen verloren. Das gilt für die
Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wie für den Bau der neuen
Startbahn am Frankfurter Flughafen. Dort kippte die Landesregierung
unter Roland Koch das in einem Vermittlungsverfahren mit den
Anliegern zuvor vereinbarte Nachtflugverbot. Misstrauen auf allen
Seiten führt auch dazu, dass Integration nicht gelingt, sondern auf
dem Niveau von Thilo Sarrazin geführt wird. Der gleichwohl aber auch
zu recht auf einige Probleme bei dem Thema hingewiesen hat.
Frühzeitiges, ernsthaftes Beteiligen der Bürger an strittigen
Vorhaben, Verlässlichkeit der Beschlüsse, in Kauf nehmen eigener
Nachteile auf allen Seiten zum Vorteil des Ganzen sind dagegen das
Wesen der Konsensdemokratie. Sie hat Deutschland stark gemacht.
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