Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Euro-Gipfel Klare Kante STEFAN SCHELP

Manchmal sind es die kleinen Anekdoten, die
Bände sprechen. So berichten Gipfel-Beobachter von einem ungarischen
Diplomaten, der sich Freitagmorgen mit der Klarstellung beeilte,
Ungarn sperre sich keineswegs gegen die Gipfel-Beschlüsse. „Wir sind
nicht Großbritannien“, betonte er. Und wer will schon Großbritannien
sein? Der Außenseiter, der Spielverderber. Der Unbelehrbare.
Derjenige, der künftig nicht mehr mitredet in Europa. Und doch macht
Camerons Verhalten aus Londoner Perspektive Sinn – vordergründig. Ein
Gutteil des britischen Bruttosozialprodukts wird am Londoner
Börsenplatz „erwirtschaftet“. Und dort ist europäisches Hereinreden
aus britischer Sicht eben höchst unerwünscht. Und wer in
Großbritannien will schon wissen, dass der überwiegende Anteil des
Londoner Börsengeschäfts nicht in Pfund, sondern in Euro abgewickelt
wird? Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, bekannt als „Merkozy“, haben
gut daran getan, beim Gipfel klare Kante zu zeigen. Sie haben die
Krisenwerkzeuge geschärft, um in der Schuldenkrise endlich aus der
Rolle der Gejagten der Finanzmärkte herauszukommen und wieder selbst
die Richtung vorzugeben. Das war eine schwere Geburt und zugleich
eine taktische Meisterleistung des deutsch-französischen Gespanns.
Kann es wirklich sein, dass endlich (fast) alle begriffen haben
sollen, dass es lichterloh brennt in der Europäischen Union? Aber was
haben die Staats- und Regierungschefs eigentlich beschlossen?
Haushaltsdisziplin, Schuldenbremsen und automatische Sanktionen für
Defizitsünder. Die Kombination von ständigem und kurzfristigem
Rettungsschirm. Die Einbindung des Internationalen Währungsfonds. Das
Rad haben die Europa-Chefs damit wahrlich nicht neu erfunden. Kein
Wunder also, dass sofort die Kritiker auf den Plan treten, die eine
stärkere Rolle der Europäischen Zentralbank fordern. Experten, die
verlangen, dass die EZB ab einem bestimmten Zinssatz Staatsanleihen
in unbegrenztem Umfang aufkaufen soll. Gut möglich, dass wir weder an
diesem Schritt noch an den – nur von den Deutschen – ungeliebten
Eurobonds vorbeikommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir noch
gar nicht auf dem Höhepunkt der Krise angekommen sind. Denkbar ist,
dass die Schuldenkrise doch noch auf die Realwirtschaft übergreift
und Europa in eine Rezession stürzt. Aber immerhin hat die
Europäische Union endlich unter Beweis gestellt, dass sie
handlungsfähig ist. Dies ist das wichtigste Signal. Es wird seine
Wirkung nicht verfehlen. Ausgerechnet die Briten haben ein ganz
anderes Signal ausgesandt. Ausgerechnet jenes Land, an dessen
Finanzplatz es die Hasardeure besonders toll getrieben haben. David
Cameron hat sich beeilt, zu beteuern, Großbritannien werde in der EU
bleiben. Dennoch: Wir in Europa sind nicht Großbritannien. Aber wenn
das Vereinigte Königreich nicht aufpasst, ist es schon bald nicht
mehr Europa.

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