Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Groko-Republik Anstrengung ist gefragt Carsten Heil

Langfristig sind große Koalitionen eine große
Gefahr für die Demokratie. Denn zu einer gesunden Demokratie gehört
zwingend eine starke Opposition, gehören kontroverse Diskussionen und
der anstrengende Prozess der Meinungsbildung. Deshalb ist es an der
Zeit, sich Sorgen um die politische Situation in Deutschland zu
machen. Nicht nur in ganz Deutschland regiert eine große Koalition
aus CDU und SPD alles nieder, ohne dabei wirklich Fortschritte zu
machen. Auch in den Ländern und auf regionaler sowie kommunaler Ebene
ist großes Konsensregieren angesagt. „Durchregieren“ nannte das
Kanzlerin Merkel einst, wobei sie da den Bundesrat mit einbezog.
Natürlich sind die Ebenen zu unterscheiden. So sind der Regionalrat
in Detmold und auch die Landschaftsversammlung in Münster keine
gesetzgebenden Institutionen. In beiden Häusern der Region gibt es
deshalb vielleicht nicht die echte große Koalition, aber es deutet
sich die große Zusammenarbeit zwischen SPD und CDU mehr als an. Auch
im Rat der Stadt Bielefeld sprechen zumindest ernstzunehmende
Anzeichen dafür, dass es auf Rot-Schwarz hinausläuft. In Thüringen
schwingt längst die Groko das Zepter, nach der jüngsten Landtagswahl
in Sachsen deutet sich auch in Dresden die Bulldozer-Regierung an.
Selbst im eher linken Brandenburg könnte nach der Wahl vom kommenden
Sonntag eine große Koalition den Ministerpräsidenten wählen. Kurz-
und vielleicht auch mittelfristig mag das gutgehen, und der Wähler
scheint das ja auch zu wollen. „Die Wahlergebnisse sind eben so“,
sagen Politiker schulterzuckend und schieben die Verantwortung für
die unselige Entwicklung damit auf das Volk. Wer sich behaglich im
Biedermeier eingerichtet hat und die große Koalition für den Normal-
und nicht den Ausnahmezustand hält, schaue nach Österreich. Keine
andere Form der Zusammenarbeit existierte in Wien nach dem Zweiten
Weltkrieg so lange wie die große Koalition. Folge: Rechte Parteien
(FPÖ) und schräge Selbstdarsteller erhalten mehr Zulauf, als sie es
verdienen. In Deutschland deuten sich ähnliche Prozesse zuerst mit
der Schill-Partei, den Piraten und nun mit der AfD an. Es hilft
nichts: Wenn die Verantwortlichen der staatstragenden großen Parteien
die politische Stabilität und ihre eigenen Parteien gesund erhalten
wollen, müssen sie sich der Mühen unterziehen, die es bedeutet, auch
kleine Koalitionen zu schmieden. Nach dem dramatischen
Bedeutungsverlust der FDP muss die CDU über Gemeinsamkeiten mit den
Grünen nachdenken. Grundsätzliche kulturelle Abneigungen dürfen nicht
weiter gepflegt werden. Die SPD muss sich auf die Linke einlassen,
sich zumindest endlich ernsthaft mit ihr auseinandersetzen. Und
umgekehrt. Das ist anstrengend, wird aber für alle Beteiligten zu
Entwicklung führen. Die gibt es nur mit Anstrengung. Das weiß jeder
Sportler. Dann werden die Wähler auch nicht mehr das Gefühl haben, es
sei egal, was sie wählen. Sie könnten das Ringen um Positionen in der
Sache honorieren. Die großen und wichtigen Weichenstellungen der
jüngsten deutschen Geschichte (Westintegration, Wiederbewaffnung,
Hinwendung zum Ostblock, Doppelbeschluss, Wiedervereinigung,
Atomausstieg/Energiewende, Agenda 2010) sind ausnahmslos in kleinen
Koalitionen vollzogen worden. Mit langem, zähem Ringen und
demokratischem Streit. Das hält Politik gesund.

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