Erst sah es so aus, als reagiere man in Brüssel
mit einem Schulterzucken auf die Muskelspiele in London. So richtig
ernst schien David Camerons Drohung vom Brexit, dem Austritt
Großbritanniens, keiner zu nehmen. Doch er meint es ernst. Plötzlich
bewegt sich die EU. Zugeständnisse erscheinen denkbar – mit einer
Notbremse bei Sozialleistungen für Zuwanderer aus der EU, mit einem
Verzicht auf weitere politische Integration der Briten, mit einer
roten Karte für nationale Parlamente bei EU-Gesetzgebung. Ist Donald
Tusk zu weit gegangen? Verrät er Prinzipien der Staatengemeinschaft,
um Großbritannien zu halten? Das mag man so sehen, doch dann blendet
man aus, dass es für die EU längst um viel mehr geht als den Verbleib
des ewig skeptischen Königreichs, so wichtig er sein mag. Das
Jahrhundertprojekt EU, entstanden auf den Trümmern des Zweiten
Weltkriegs, ersonnen von Idealisten und zur Realität geworden, wankt.
Zeitweise hilflos in der Eurokrise, gespalten in der
Flüchtlingsfrage, zerstritten in der Suche nach Perspektive,
eingezwängt von nationalstaatlichen Denkmustern vor allem im Osten –
die Lagebeschreibung ist düster. Zu allem Überfluss droht das
Paradestück, das Schengen-Abkommen der gefallenen Binnengrenzen, zu
scheitern. Einen Flüchtlingsstrom von Millionen hatte niemand auf dem
Plan. Die Fehlentwicklung hat Gründe. Das schnelle Wachstum gen Osten
um jeden Preis. Die (zu) lange Leine in Finanzfragen. Der allzu naive
Glaube, Europa nach dem Vorbild der USA zu einer Großmacht zu machen,
die mit einer Stimme spricht. Und nun? Alles verloren? Nein, noch
lange nicht. Wichtig ist jetzt zu akzeptieren, dass der bisherige
Ansatz der Union nicht mehr ausreicht. Doch warum soll es nicht einen
besseren, den veränderten Bedingungen angepassten geben? Die
Herausforderung aus London kommt genau richtig. Sie zwingt die 28
Staaten dazu, endlich Position zu beziehen. Was erwartet jedes Land
von der EU? Was bringt sie ihm, was kostet sie es? Am Ende werden die
meisten begreifen, dass es sich lohnt, das Jahrhundertwerk zu
erhalten. Jene, die das nicht verstehen, müssen ja nicht dabei
bleiben. Gesundschrumpfen ist auch ein Weg.
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