Man darf Angela Merkel nicht unterschätzen. Der
Bundeskanzlerin ist zur Sommerpause mit der neuen Euro-Strategie ein
alles in allem wohl gutes Werk gelungen. Der Euro steht wieder
sicherer da, die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt. Auch
wenn die Staatsverschuldung nach wie vor eine beachtenswerte
Gefährdung unseres Wohlstands darstellt, muss man Merkels
Kanzlerschaft zur Halbzeit der Legislatur attestieren: Deutschland
geht es so gut wie lange nicht. Gleichwohl will sich beim Publikum so
recht keine Zufriedenheit einstellen. Schwarz-Gelb ist schon lange
ohne Mehrheit, sagen uns die Meinungsforscher. Rot-Grün dagegen
erlebt in Umfragen eine Renaissance. Steinbrück und Steinmeier führen
die Hitlisten an, Merkel sackt ab. Das ist kein überraschendes
Phänomen für eine Regierungspartei und ihren Regierungschef. Auch die
SPD hat an ihrem Kanzler Gerhard Schröder gelitten. Wenn man
Wahlergebnisse mit Stimmungen im Lande vergleicht, dann spricht
vieles für die These, dass letztere ersteren vorauseilen: Als nach
den 16 langen Kohl-Jahren die Mehrheit der Deutschen eigentlich an
einer breiten Regierungsmehrheit für grundlegende Reformen, also
einer großen Koalition, interessiert war, reichte es für Rot-Grün.
Als die gesellschaftliche Debatte 2005 in eine neoliberale
Schwarz-Gelb-Erwartung mündete, reichte es nur für eine große
Koalition. Als 2009 das öffentliche Bewusstsein schwarz-grün tickte,
war die Mehrheit schwarz-gelb. Und nun? Vielleicht ist es das
Schicksal deutscher Regierungschefs, dass sie ihre eigene
(partei-)politische Basis ruinieren müssen, wenn sie das Land mit
seinen Bürgern über eine bestimmte Zeit aus der politischen Mitte
heraus in eine im Prinzip richtige Richtung führen. Schröder ging es
da nicht anders als Merkel jetzt. Und ein Kanzler Steinbrück stünde
vermutlich sehr schnell vor einem vergleichbaren Problem. Anders als
bei Schröder, dem man immerhin das Nein zum Irakkrieg und die
Sozialreformen der Agenda 2010 zurechnen kann, vermisst man bei der
Kanzlerin allerdings inhaltliche Linientreue und Führung. Es fehlt
ihr ein politisches Werk, das man mit ihr verbindet: Wehrpflicht war
zunächst unverzichtbarer Bestandteil christdemokratischer Identität,
Merkel ließ sie abschaffen. Steuersenkungen sollte es nicht geben, um
die Schulden abzubauen, jetzt gibt es sie doch. Eine längere
Atomlaufzeit war unvermeidbar, nun schaltet Merkel alle AKW ab. Was
immer man nimmt: Der Kanzlerin fehlt es bei allem Management-Talent
an nachhaltigem Profil, an politischer Identität. Deutschland braucht
aber eine Kanzlerin, die führt, keine Managerin der Macht. Dass
Merkel solche Führung nicht bieten kann, sondern zwischen
Alltagsmanagement und Krisenlamento wabert – daran laboriert die
Union. Jürgen Rüttgers würde das postmoderne Beliebigkeit nennen.
Damit, da hat der Ex-Regierungschef von NRW wohl recht, ist kein
Staat zu machen. Auch das gehört zur Halbzeitbilanz der Kanzlerin.
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