Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Merkel und Europa Die große Rede ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Immer wieder wird von der Bundeskanzlerin die
eine große Europarede gefordert. Verblüffend ist schon, dass sie
diese Ansprache noch nicht gehalten hat. Gelegenheiten hätte es oft
genug gegeben. Schließlich ist die Eurokrise vorherrschendes Thema
seit über anderthalb Jahren. Aber Merkel, die bekanntlich auf Sicht
fährt, hat bisher mit großen Worten hinterm Berg gehalten –
vermutlich aus taktischen Gründen. Doch seitdem die Dimensionen der
Eurorettung und die Skepsis in den eigenen Reihen wachsen, nimmt der
Hunger der Menschen nach grundsätzlichen Erklärungen rapide zu. Aber
mit Prinzipien tut Merkel sich erstaunlich schwer. Deshalb liegt
Altkanzler Helmut Kohl mit seiner Kritik auch so richtig: Es ist
nicht erkennbar, auf welchen Werten ihre Politik gründet. Der
Merkel–sche Pragmatismus schreckt vor abrupten 180-Grad-Wendungen
nicht zurück. Das war ja nicht nur in der Atomenergiefrage der Fall,
sondern oft genug schon in der Europapolitik. Auch da hat Merkel
immer wieder Grenzen eingerissen, die sie vorher markiert hatte. Kein
Wunder, dass es kaum noch jemand glauben mag, wenn sie zum Beispiel
Eurobonds ausschließt. Merkels Flexibilität hinterlässt tiefe
Erklär-Löcher und produziert Rätsel. So wächst die Unsicherheit. Nun
soll Merkel erstmals in der Fraktionssondersitzung grundsätzlich
geworden sein. Dass es mit ihr keine Rückkehr zur D-Mark geben werde,
dass kein Land in der Eurozone fallen gelassen werde und dass der
Euro gestärkt werden müsse – diese roten Linien soll sie gezogen
haben. Nun wäre die Zeit gekommen, solche Prinzipien auch mit einer
großen Rede im Bundestag zu untermauern, um die Menschen davon zu
überzeugen, dass es ihr nicht nur um Machterhalt geht, sondern dass
es Werte gibt, für die sich der Einsatz lohnt. Und für die sie
kämpfen wird – selbst wenn es sie die Kanzlerschaft kosten sollte.

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