Kommende Woche wird in Brasilien die
Fußballweltmeisterschaft angepfiffen. In vielen Familien und
Haushalten beginnt dann eine neue Zeitrechnung: Beliebte
Fernsehrituale wie zum Beispiel der Tatort rücken in den Hintergrund.
Vor allem die Väter, aber auch viele Mütter, Kinder und Jugendliche
wollen dann am Bildschirm verfolgen, wie die deutsche
Nationalmannschaft spielt. Ganz Hartgesottene schauen sich sogar alle
64 Spiele an. Die Identifikation mit dem Fußball, die große Vorfreude
auf die Weltmeisterschaft, wird diesmal allerdings ziemlich getrübt.
Da sind zum einen diverse Zipperlein, von denen etliche deutsche
Stars noch geplagt werden. Hält das Knie von Sami Khedira? Heilt die
Schulter von Manuel Neuer? Verschwinden die Blessuren bei Bastian
Schweinsteiger und Philipp Lahm? Findet Mesut Özil gerade noch
rechtzeitig seine Form und „unsere“ Nationalelf mit ihren großartigen
Einzelkönnern und Edeltechnikern den nötigen Teamgeist? Fragen wie
diese beschäftigen aktuell viele Menschen in Deutschland. Am
Austragungsort der Weltmeisterschaft hingegen gibt es ganz andere
Sorgen. Meldungen über gewalttätige Demonstrationen, Streiks und
Schießereien mit tödlichem Ausgang haben uns in den vergangenen
Wochen und Monaten aus Brasilien immer wieder erreicht. Es gibt die
nicht ganz unbegründete Sorge, dass die Auseinandersetzungen auch
während der Weltmeisterschaft wieder aufflammen und sie sogar
dauerhaft begleiten werden. Die meisten Brasilianer lieben zwar den
Fußball, aber sie sind gleichzeitig zu Recht der Ansicht, dass in
ihrem Land zu wenig gegen die Armut getan wird und notwendige
Investitionen ins Bildungs- und Gesundheitssystem ausbleiben.
Tatsächlich sind die Kosten der Fußball-WM mit fast zehn Milliarden
Euro immens. Und es ist auch nicht zu leugnen, dass für den Bau von
Stadien in Brasilien ganze Wohnsiedlungen weichen mussten. Kritisch
zu hinterfragen sind auch die brutalen Einsätze der Sicherheitskräfte
in den Armenvierteln der Städte. Es hat den Anschein, dass sie dort
die Plätze freischießen, damit der Ball ungestört rollen kann. Auch
die Geschäftspraktiken des Fußballweltverbandes, der 3,1 Milliarden
Euro aus der Vermarktung von TV-Rechten und Lizenzen erzielt, muss
man keineswegs gutheißen. Zumal die von Korruptionsskandalen
erschütterte FIFA die WM 2022 irrsinnigerweise in die Wüste nach
Katar vergeben hat. Es stimmt, an einer Fußball-WM lässt sich vieles
kritisieren. Häufig schon wurde das Großereignis auch politisch
instrumentalisiert. Trotzdem wohnt ihm ein Zauber inne, dem sich nur
wenige entziehen können. César Luis Menotti, legendärer Trainer und
Linksintellektueller, hat einmal geforderte, dass man Fußball nicht
einzig und allein deshalb spielen sollte, um zu gewinnen, sondern vor
allem „um Freude zu empfinden, um ein Fest zu erleben, um als Mensch
zu wachsen“. Der legendäre Trainer führte Argentinien 1978 im eigenen
Land zum WM-Titelgewinn und verweigerte anschließend dem Diktator
Jorge Videla den Handschlag. Man kann den Fußball also dialektisch
sehen. Durch ihn wird die Welt nicht besser, aber auch nicht
schlechter. Ein Land, das die WM ausrichtet, hat immerhin die Chance,
sich mit seinen Stärken und Schwächen zu präsentieren. Wir dürfen die
Probleme in Brasilien nicht leugnen, uns aber gleichzeitig auch
unbändig auf diese WM freuen. Im Sinne Menottis wollen wir ein Fest
erleben. Friedlich soll es sein.
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