Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Ein Leben
vor dem Attentat, eines danach. Ein Leben wie im Vorher, fürchten
viele, sei im Nachher unmöglich. Das Attentat auf die Zeichner des
Charlie Hebdo, so heißt es bereits, sei Europas 11. September.
Ähnlich den Terroranschlägen in New York im Jahr 2001 sei der alte
Kontinent in seinem Innersten getroffen worden. So wie die
Terroristen das World Trade Center als Symbol des „Höher, schneller,
weiter“ der USA auserkoren hatten, zielten sie nun mit der
Satirezeitung auf ein Symbol der Meinungsfreiheit. Europas 11.
September – vielleicht. Doch nicht die Opferzahlen entscheiden
darüber, nicht die Grausamkeit der Täter, nicht die öffentliche
Empörung, auch nicht die Titelseiten der Zeitungen. Viel später,
vielleicht erst in zehn Jahren, werden wir sehen können, was dieses
Attentat mit uns und aus uns gemacht hat. Der 11. September 2001 hat
aus den USA ein krankes Land gemacht. Einen Staat im Wahn, getrieben,
übergriffig, maßlos. Auch damals hieß es zunächst, die Terroristen
hätten das Gegenteil bewirkt. Nie stand die Welt so dicht an der
Seite Amerikas, nie hatte das Land international so viel Kredit. Am
Anfang. Solidarität ist eine flüchtige Währung. Amerika ist hohl
geworden, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat für die innere
Sicherheit seine innere Selbstsicherheit geopfert. Aus dem Land der
Freiheit ist ein Land des Misstrauens geworden, ein pathologischer
Überwachungsstaat mit entfesselten Geheimdiensten und staatlichen
Folterknechten. Und es hat seine Verbündeten gezwungen, mitzuziehen –
auch Deutschland. Bis heute sind die Anti-Terror-Gesetze in Kraft.
Vorratsdatenspeicherung, Luftsicherheitsgesetz, Videoüberwachung,
Antiterrordatei, Fingerabdrücke in Pässen, Nacktscanner, erweiterte
Befugnisse der Geheimdienste ohne richterliche Kontrolle . . . die
Liste der angeblichen Sicherheitsmaßnahmen ist lang. Und die Liste
der Begehrlichkeiten ist sogar noch länger. Sie wird nach Paris
eingefordert werden. Freiheit und Sicherheit aber sind zwei Magneten,
die sich abstoßen. Wir müssen nun entscheiden, was wir anziehender
finden. Die Architekten des Präventionsstaats versichern, dass beides
möglich sei. Denn, so ihr liebstes Mantra: Wer nichts zu verbergen
hat, hat nichts zu befürchten. Das Sicherheitsrecht lasse den
unbescholtenen Bürger in seiner Freiheit uneingeschränkt. Doch das
ist eine Lüge. Nicht nur dass de facto jeder von uns unter
Generalverdacht gestellt wird, macht uns unfrei. Was die Gesellschaft
in Sicherheit wiegen soll, schaukelt in ihr gleichzeitig diffuse
Ängste hoch. Eine Gesellschaft ist unfrei, wenn man ihr eine
allgegenwärtige und immer anhaltende, undefinierbare Gefahr vor Augen
hält, die jederzeit – wer weiß schon wann? – losbrechen kann. Das
aber ist eine selbsterfüllende Prophezeiung und sicherheitspolitische
Binse. Wachsamkeit der Sicherheitsbehörden ist notwendig, keine
Frage. Sie war es immer. Aber sie wird im Einzelfall wieder versagen
– egal, mit wie vielen Befugnissen wir die Behörden noch ausstatten.
Die Freiheit, die uns nicht die Terroristen, sondern die wir uns
selbst nehmen, kehrt nicht zurück. Das ist die Lehre aus dem 11.
September 2001. Was wir trotz des Terrors und dem Terror trotzend
zeigen können, ist, dass wir in einem Land und einem Europa leben,
das, bei allen Macken, so ist, wie wir es haben wollen. Wir nehmen
uns die Freiheit, dieses Attentat zu überleben.
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