Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Westerwelle und die FDP Ganz ohne Steuersenkung ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Was immer Union und FDP einst als größten Erfolg
der eigenen Regierungszeit preisen werden, die Umsetzung des
Versprechens „Mehr Netto vom Brutto“ darf nicht dazu gehören. Diese
Aussicht, die vor allem von der FDP geschürt wurde, gehört eher in
die Schublade mit der Aufschrift „Wählertäuschung“. Denn schon in
diesem Jahr gibt es wieder weniger Netto als zuvor: die
Krankenkassenbeiträge steigen, ebenso die Arbeitslosenversicherung,
die Tabaksteuer klettert und die Luftverkehrsabgabe macht das Fliegen
teurer. Doch eigentlich haben die Wähler schon immer genügend
Realitätssinn besessen, die vollmundigen Versprechungen auf
großartige Entlastungen nicht allzu ernst zu nehmen. Das ändert aber
nichts daran, dass vor allem die Liberalen seit Regierungsantritt an
Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Und die wird nicht wiederhergestellt
in dem eine winzige Steuererleichterung rückwirkend zum Jahresbeginn
2011 gültig wird statt zum Jahresanfang 2012. Solange die Kommunen
kein Geld haben, um armen Kindern warmes Essen anzubieten oder
genügend Räumfahrzeuge im strengen Winter vorzuhalten, mangelt es dem
ganzen Projekt der Steuersenkung an moralischer Rechtfertigung. Auch
deshalb wäre FDP-Chef Guido Westerwelle gut beraten bei seiner mit
Spannung erwarteten Dreikönigsrede die Menschen einfach mal zu
überraschen – und die Vision eines Liberalismus zu entwerfen, der
sich nicht auf platten ökonomischen Egoismus beschränkt. Wie wäre es,
wenn der FDP-Vorsitzende eine Rede hielte, in der das Wort
Steuersenkung überhaupt nicht vorkommt? Und bitte auch kein Appell an
niedere Instinkte a la „spätrömische Dekadenz“. Dafür lieber
Weltoffenheit, Toleranz, aufgeklärte Bürgerlichkeit und das Wissen,
dass es ein paar Probleme mehr gibt auf der Welt als die nächste
Steuererklärung.

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