Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Willkommenskultur und Geländegewinne Praktische Vernunft FLORIAN PFITZNER, DÜSSELDORF

Neulich ist mir am Bielefelder Hauptbahnhof eine
Gruppe von Kindern aufgefallen, die ziemlich verloren auf dem
Bahnsteig herumstand. Es war schon dunkel, und einer der Jungs sprach
mich an: Er zeigte auf einen zerknitterten Zettel, vergewisserte sich
in schlechtem Englisch über die Verbindung nach Trier; um kurz vor
eins in der Nacht sollten er und die anderen neun Kinder – die
jüngsten waren fünf, sechs Jahre alt – in der rheinland-pfälzischen
Stadt ankommen. Mal langsam, entgegnete ich, fragte nach den Eltern
und wo sie denn herkämen. Somalia, erwiderte der Junge, die Eltern
seien in Afrika. Man hätte sie am Morgen aus Dortmund nach Bielefeld
geschickt. Jetzt sollten sie allein und vor allem schnell ins
Nachbarland weiterfahren. Passiert jeden Tag, schimpfte ein
herbeigerufener Mitarbeiter der Bahnhofsmission, bevor er den Kindern
etwas Wasser und Äpfel einsteckte und unser Zug einrollte. Es ist, in
vielerlei Hinsicht, der Wahnsinn, was in diesen Monaten vor sich
geht. Auf politischer Ebene haben sie nun hoffentlich eingesehen, wie
unangemessen es ist, das Elend der Flüchtlinge für Parteitaktik zu
nutzen. Natürlich sollen Politiker über ihre Ansichten streiten, wer
aber „kleinteilige Geländegewinne“ anstrebt, so kritisierte es
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, hilft ausschließlich den
Pegidisten und anderen Brandstiftern. In der Tat schüren Vorwürfe und
Wortklaubereien jene Verunsicherung, aus der bisweilen Polemik und
Fremdenhass erwachsen. Politik ist keine Arena des Populismus–,
sondern eine der praktischen Vernunft. Die Parolen von Dresden taugen
kaum als bundesweiter Maßstab. Jenseits der Zusammenrottung der
Menschen, die die Welt nicht mehr verstehen, hat sich jedoch etwas
verändert. Mittlerweile leben wir in einem Land, in dem sich einige
an deutschen Grenzen Zäune und Gewehre wünschen, in dem abgefackelte
Asylbewerberheime nur noch als Randnotizen erscheinen, in dem
Menschen ob ihrer Haltung angegriffen werden. So weit kann es führen,
wenn sich falsche Patrioten die deutsche Fahne aneignen und
suggerieren, sie seien die Mehrheit. Höchste Zeit für die Große
Koalition, sich zusammenzuraufen statt staatstragend von einer
„nationalen Aufgabe“ zu sprechen, am Ende jedoch diejenigen, die sich
wirklich einsetzen, allein zu lassen. „Willkommenskultur“ hin, „Wir
schaffen das“ her: Zweifellos haben die meisten Deutschen den Wandel
längst erkannt, viele in der Flüchtlingshilfe eine Erfüllung
gefunden, obwohl sich Politiker von Merkel bis Kraft erst spät
daransetzten, die Veränderung „der Gesellschaft“ zu erklären.
Praktische Vernunft. Daran sollte sich die Politik ausrichten und
endlich die Ehrenamtlichen entlasten, durch Ordnung und Integration.
Behörden hinken oft hinterher. Häufig braucht es unzählige Telefonate
nur für einen Lernförderantrag. In der Flüchtlingsfrage ist die
politische Entscheidung aus einer Gesinnung entsprungen statt aus
rationaler Abwägung, was berechtigte Kritik ausgelöst hat. Mit Blick
auf die Kinder am Bielefelder Bahnhof kann man den Entschluss
verstehen. Es liegt an Politikern wie Merkel und Kraft, nun Worte mit
Leben zu füllen.

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