Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Wohin steuert das Land? Politische Klasse gefragt THOMAS SEIM

Haben wir eine Staatskrise? Nein! Das Parlament
enscheidet frei und in eigener Hoheit über die Dinge und Gesetze, die
das Leben in Deutschland gestalten. Und es kontrolliert die Regierung
in einem etablierten parlamentarischen Verfahren. Die Regierung ist
handlungsfähig nach innen wie nach außen. Sie legt Gesetze vor und
führt sie aus. Die Justiz ist frei und unabhängig. Sie kontrolliert
Parlament und Regierung und legt – falls nötig – Entscheidungen von
beiden wieder vor. Worüber sprechen wir also in Deutschland? Darüber,
dass sich ein Staatsoberhaupt vor seiner Amtszeit ein Haus gekauft
hat, dessen Finanzierung – gelinde gesagt – Fragen aufwirft. Darüber,
dass man irritiert über dieses Staatsoberhaupt den Kopf schüttelt,
weil es – als Verfassungsorgan – Medien als Vertretern der
Pressefreiheit droht, die ebenfalls Verfassungsrang hat und die im
Grundgesetz auch früher genannt wird als der Präsident. Schließlich
auch darüber, dass der Präsident es mit der Wahrheit – sagen wir –
immer nur so genau nimmt wie es Fakten gerade erfordern. Das
allerdings ist ein Verhaltensmuster, dass wir schon häfiger
beobachten mussten. Ein Minister zum Beispiel, der seine Doktorarbeit
weitgehend abgeschrieben hat, dessen Doktortitel aberkannt wurde, der
aber nichts zugeben konnte oder wollte. Der aber zögert heute nicht,
aus dem Ausland den deutschen Politikern Fehler zu bescheinigen. Und
ausgerechnet der will nun zurück in die Politik. Was ist nur los mit
dieser politischen Klasse, die immer wieder Schlagzeilen macht, und
zwar mehr und andere Schlagzeilen als gewünscht? Ein Spitzenkandidat
für eine Landtagswahl (in Schleswig-Holstein) räumt frühere
Beziehungen zu einer Minderjährigen ein und muss zurücktreten. Im
Saarland scheitert eine Regierung, weil eine Koalitionspartei sich
und das Bündnis mit Intrigenspiel lähmt. Der Generalsekretär einer
ehemals bedeutenden liberalen Partei, deren Ehrenvorsitzender und
Ex-Außenminister durch viele Täler gegangen ist, der aber nie die
Brocken hinwarf, sondern stest versuchte, seine Pflicht zu tun –
dieser Generalsekretär sagt einfach „Auf Wiedersehen“. Oder: Ein
veritabler Ex-Finanzminister geht in eine TV-Talkshow (!), und lässt
sich von einem Ex-Kanzler mit hohem Ansehen zum Kanzlerkandidaten der
SPD ausrufen. Oder gestern: Der SPD-Parteichef bietet der Kanzlerin
Unterstützung in der Krise an – ohne Neuwahlen. Seine
Generalsekretärin dagegen hält zeitgleich Neuwahlen bei einem
Rücktritt des Präsidenten für unausweichlich. Man fasst es nicht! Man
kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in dieser Generation
der Politik weniger Solidität und Bodenhaftung gibt, weniger
Charakterfestigkeit und Seriosität, weniger Überzeugung und
Nachhaltigkeit als nötig. Sicher, es gibt viele Gegenbeispiele.
Persönlichkeiten, die das Gemeinwesen in Bund, Ländern und Gemeinden
so führen, dass es uns hier in Mitteleuropa so gut geht wie kaum
irgendwo anders. Aber diese schweigende Politiker-Mehrheit müsste
bald mal Laut geben, damit nicht als Staatskrise endet, was als
Personenversagen begann.

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