Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR zu veröffentlichten Geheimdokumenten Beredtes Schweigen JOACHIM ROGGE, WASHINGTON

Selbst wenn die Kampfhandlungen offiziell
eingestellt und die US-Kampftruppen abgezogen sind, ist der Irakkrieg
längst noch nicht Geschichte. Von Befriedung ist das innerlich
zerrissene Land noch weit entfernt. Aus dem amerikanischen
Bewusstsein ist dieser Krieg mit seinem hohen Blutzoll auch unter den
eigenen Soldaten hingegen fast schon entrückt. Die Veröffentlichung
Hunderttausender geheimer Dokumente aus der Nahperspektive dieses
grausam-blutigen Krieges holt Amerika nun wieder ein. Die wütenden
Kommentare in Washington zeigen, wie schwer die
Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks mit der Publikation dieser
Feldberichte Politik und Militär getroffen hat. Die Enthüllung
geheimer Dokumente in einem solchen Ausmaß kommt fast schon einer
Demütigung der stärksten Armee der Welt gleich. Doch ob die
Veröffentlichung darüber hinaus Effekte zeigen und eine nationale
Debatte anstoßen wird, lässt sich bezweifeln. Die schiere Menge
allein ist zu gewaltig für gründliche Lektüre. Sie verstellt damit
eher den Blick, als dass sie erhellt. Und dass Krieg grausam ist und
vor allem die Zivilbevölkerung leiden lässt, ist überdies keine neue
Erkenntnis. Amerika hat längst andere Sorgen, steckt mitten im
Wahlkampfendspurt, bei dem nicht ferne Kriege, sondern die Lage an
der Heimatfront im Zentrum steht. Viel mediale Beachtung hat der Coup
von Wikileaks über das Wochenende in den USA tatsächlich kaum
gefunden. Selbst Präsident Obama überging die Irakpapiere diesmal mit
beredtem Schweigen. Tatsächlich scheint das Land vorerst nicht weiter
gewillt zu sein, sich den unkaschierten Blick auf all die Gräuel
während des Irakfeldzugs zuzumuten. Wikileaks ist zweifellos ein
spektakulärer Coup gelungen. Doch der Lerneffekt daraus dürfte gering
sein. Leider.    

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