NRZ: Eine linke Mehrheit ist plötzlich wieder machbar – ein Kommentar von JAN JESSEN

Schulz-Euphorie und Merkel-Müdigkeit rücken das
lange Zeit Undenkbare wieder in den Bereich des Vorstellbaren: Die
SPD könnte eine Bundestagswahl gewinnen. Das ist kein wirrer
Fiebertraum von verzweifelten Sozialdemokraten mehr, wie aktuelle
Umfragen zeigen. Die Karte Gerechtigkeit ist zu einem Trumpf für die
SPD geworden.

Gerechtigkeit. Das ist ein großes und ein ausgelutschtes Wort
zugleich, eines, das Politiker mit Vorsicht nutzen sollten, weil sie
sich schnell lächerlich machen können; insbesondere, wenn sie einer
Partei angehören, deren Agenda 2010 in weiten Teilen der Bevölkerung
als Inbegriff der Ungerechtigkeit verstanden wird.

Martin Schulz nutzt das Wort geschickt. Er distanziert sich von
der Agenda, räumt Fehler ein, und noch scheint das zu verfangen. Noch
fragen sich die Wähler nicht, warum die SPD erst jetzt, nach so
vielen Jahren und dem Aufstieg rechter Populisten, Kurskorrekturen
vornimmt. Ob der rote Aufschwung nachhaltig ist, ist noch nicht
ausgemacht.

Die Ankündigung, das Arbeitslosengeld I länger auszahlen zu
wollen, hat jedenfalls das Potenzial, von Abstiegsängsten geplagte
frühere Stammwähler zurückzugewinnen, jene „hart arbeitende“
Mittelschicht, von der Schulz gerne spricht.

Natürlich werden dadurch die Gräben zwischen Arm und Reich nicht
wesentlich eingeebnet, dazu muss die SPD noch Korrekturen an anderen
Stellen vornehmen, an der Abgeltungs-, der Vermögens- oder der
Erbschaftssteuer beispielsweise.

Auch bündnisstrategisch ist die Ankündigung sinnvoll, die Agenda
2010 reformieren zu wollen. Rot-Rot-Grün wird damit realistischer.
Der Linkspartei wird es einfacher gemacht, ihrerseits inhaltliche
Korrekturen vorzunehmen, um im Bund regierungsfähig zu sein, etwa bei
den bislang mit der SPD unvereinbaren außenpolitischen Positionen.

Die Grünen – die sich bündnistechnisch in den vergangenen Jahren
zunehmend als eine Art neue FDP verstanden haben – werden gezwungen,
sich deutlicher zu positionieren. Ihr linker Flügel hat Aufwind. Denn
eine linke Mehrheit ist 2017 in Deutschland machbar. Wer hätte das
gedacht?

Pressekontakt:
Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung
Redaktion

Telefon: 0201/8042616

Original-Content von: Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung, übermittelt durch news aktuell