NRZ: Ermittelt gegen Washington! – ein Kommentar von Jan Jessen

Man stelle sich einmal vor, ein ehemaliger
Mitarbeiter des russischen Auslandsnachrichtendienstes Slushba
Wneschnej Raswedki, kurz SWR, hätte ausgeplaudert und mit Dokumenten
belegt, dass Moskau seit 2002 deutsche Regierungschefs abhören lässt;
und dass russische Spione flächendeckend die Internetaktivitäten der
deutschen Bevölkerung überwachen. Wetten – die ohnehin abgekühlten
deutsch-russischen Beziehungen wären schockgefrostet. Und natürlich
würde der Generalbundesanwalt Ermittlungen einleiten. Spionage ist
eine Straftat. Im Fall der USA gelten offensichtlich andere Maßstäbe.
Washington hat offenbar nicht nur Kanzlerin Merkel, sondern auch
ihren Vorgänger Schröder ausspionieren lassen. Das ist ebenso
ungeheuerlich, wie die bisherigen Reaktionen darauf verblüffend
moderat sind. Berlin ist enttäuscht, dass der Verbündete jenseits des
Atlantiks zu so etwas fähig ist. Das gleicht einem Musterschüler, der
vergrätzt ist, weil er entdecken muss, dass der Lehrer doch Zweifel
an ihm hat. Die Bundesanwaltschaft prüft seit Monaten, ob sie wegen
der Überwachungen ein Ermittlungsverfahren einleiten soll. Natürlich
soll sie das. Noch mal: Spionage ist eine Straftat. Deutschland ist
ein Rechtsstaat. Straftaten gehören verfolgt, auch wenn sie von
Freunden begangen werden. Natürlich würde das deutsch-amerikanische
Verhältnis durch ein solches Ermittlungsverfahren auf eine
Belastungsprobe gestellt. Na und? Manchmal müssen Verhältnisse eben
auf den Prüfstand gestellt werden, zumal, wenn einer der Partner dem
anderen mit einem solchen Maß an Misstrauen und Selbstgefälligkeit
begegnet; wenn der Partner nicht einmal das zeigt, was im Strafrecht
„tätige Reue“ genannt wird. Zu einer Wertegemeinschaft gehört, dass
die Partner einander respektieren. Respekt muss man sich erarbeiten.
Dazu gehört auch, Washington mit aller Schärfe klarzumachen, dass
informationelle Selbstbestimmung und der Schutz der Privatsphäre
Bürgerrechte sind, deren Verletzung Deutschland nicht duldet. Von
niemandem. Natürlich wird ein Ermittlungsverfahren, sollte es je
zustande kommen, im Sande verlaufen. NSA-Chef Alexander wird sich nie
vor einem deutschen Gericht verantworten müssen. Aber es wäre ein
Zeichen. Genauso wäre es auch ein Zeichen, die US-Aktivitäten im
Verfassungsschutzbericht auftauchen zu lassen, in dem der Spionage
ein großes Kapitel gewidmet ist. Im Aktuellen werden darin als
„Hauptträger der Spionageaktivitäten gegen Deutschland“ China und
Russland genannt. Die USA werden mit keiner Silbe erwähnt.

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