NRZ: Freibrief für den Kampf gegen die syrischen Kurden – ein Kommentar von JAN JESSEN

Im Endeffekt ist es egal, wer von Syrien aus den
türkischen Grenzort Akçakale beschossen hat; ob die Granate, die fünf
Zivilisten tötete, von syrischen Soldaten oder von Freischärlern
abgefeuert wurde. Fest steht: Der Angriff hat der türkischen Seite
den willkommenen Anlass dafür geliefert, grünes Licht für
militärische Operationen im Nachbarland zu geben. Ankara wird keinen
großen Krieg gegen Damaskus beginnen, in den die Nato mit
hereingezogen werden könnte; das liegt nicht im Interesse der
Regierung Erdogan, ganz gleich, wie groß ihr Wunsch ist, als
regionale Ordungsmacht wahrgenommen zu werden. Die Türkei will
kurdische Autonomiebestrebungen in Syrien eindämmen.

Der Traum von einem freien, unabhängigen Kurdistan ist in
greifbarere Nähe gerückt, seit der Bürgerkrieg in Syrien losgebrochen
ist. Im Schatten des Konflikts haben sich die Kurden – weitgehend
unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – im Norden des Landes Freiräume
geschaffen, sie kontrollieren ganze Städte. Im Nordirak genießen sie
ohnehin seit Jahren einen weitreichenden Autonomiestatus. Auf dem
Berg Kandil im Nordirak hat die kurdische Arbeiterpartei PKK einen
sicheren Rückzugshafen, trotz der Luftangriffe, die die Türkei immer
wieder auf das Nachbarland fliegt. Jetzt will Bagdad die Türkei
zwingen, Militärstützpunkte im Nordirak zu schließen. Und nicht
zuletzt hat die PKK im Frühjahr wieder ihren Guerilla-Krieg im Süden
der Türkei aufgenommen. Die Regierung Erdogan steht wegen dieser
Entwicklungen innenpolitisch mächtig unter Druck.

Der türkische Angriff auf die Region um Tell Abjad war nicht der
erste auf das syrische Kurdengebiet. Schon zu Wochenbeginn – also
lange vor dem Granatenbeschuss auf Akçakale – schossen türkische
Soldaten auf kurdische Freischärler und töteten einen Menschen. Mit
dem Parlamentsbeschluss von gestern hat sich Ankara jetzt einen
Freibrief dafür verschafft, die Militäroperationen gegen die Kurden
in Syrien auszuweiten und ihre Freiheitsbestrebungen im Keim zu
ersticken. Die ohnehin komplizierte Lage im syrischen Bürgerkrieg –
der längst ein Stellvertreter-Krieg ist, in dem regionale Mächte ihr
eigenes blutiges Spiel spielen – wird noch verworrener. Der Westen
sollte sich nicht auf dieses Spiel einlassen.

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