Fast alle Libyer wissen noch genau, wo sie in jenem
historischen Moment waren. An jenem Vormittag vor einem Jahr, als ihr
verhasster „Bruder Führer“ von Rebellen entdeckt und exekutiert wurde
sowie neun Monate Bürgerkrieg ihr Ende fanden. Längst sind die
Jubelfeiern über Muammar Gaddafis Tod verklungen und hat Libyen
seinen mühsamen Weg in eine neue Zukunft angetreten. 50 000 Menschen
haben ihr Leben verloren, von tausenden Regimeopfern fehlt bis heute
jede Spur. Mehr als 10 000 Schwerverletzte liegen nach wie vor in
Europa und arabischen Nachbarländern in Krankenhäusern. Gaddafi hat
ein verheerendes Erbe hinterlassen, und es wird Jahrzehnte dauern,
bis die Trümmer in den Köpfen beseitigt sind. Ohne Zweifel hat das
Land mit seinen friedlichen Parlamentswahlen einen ersten,
eindrucksvollen Meilenstein gesetzt. Doch ansonsten ist nicht viel
passiert. Der tief eingeschliffene Konflikt zwischen dem dominanten
Westen und vernachlässigten Osten schwelt weiter. Allen Kommunen
fehlt das nötigste Geld, obwohl die Öleinnahmen wieder sprudeln wie
zu Gaddafis Zeiten. Der Aufbau der Armee tritt auf der Stelle. Viele
Polizeibeamte haben seit Monaten keine Gehälter mehr bekommen – und
dass, obwohl innere Sicherheit der wichtigste Schlüssel ist für
wirtschaftliche Entwicklung, zivilen Fortschritt und ausländische
Investitionen. Stattdessen nisten sich Gaddafis Getreue in den
Nachbarländern immer besser ein, schüren Zwist und Unruhen unter
ihren Landsleuten. Im Inneren dagegen haben mutige Bürgerinitiativen
den radikalen Islamisten erstmals offen die Stirn geboten und sie
verscheucht. Doch niemand weiß, wo die Fanatiker jetzt stecken, wie
stark sie sind und was sie als Nächstes planen. Libyen hat Talent und
Libyen hat Geld – und Libyen kann auf die Unterstützung aus dem
Ausland zählen. Eine offene Gesellschaft aber braucht ständige Pflege
und Wachsamkeit. Und das können nur die Bürger von Libyen selbst in
die Hand nehmen.
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