Ostthüringer Zeitung: Jörg Riebartsch kommentiert: Tugenden sind unser Bier

Nie ließ sich die Frage nach den deutschen Tugenden
leichter beantworten als dieser Tage, in den Tagen der dann doch
irgendwann endenden Wochen der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien:
Fußball, Bier und Auto. Was das Bier anbelangt sind wir Ostthüringer
ja befangen – immerhin haben wir da in einem Segment einen
Marktführer zu bieten und exportieren großzügig und fleißig in andere
Bundesländer.

Beinahe zwangsläufig, innerer Eingebung oder Fernsteuerung
folgend, wandeln Politiker auf den Spuren deutscher Tugenden und
niemand zeigte sich verwundert, als weiland Genosse Kanzler Gerhard
Schröder bei einer Wahlveranstaltung sein Publikum aufforderte: „Hey,
hol mir ma ne Flasche Bier.“

Nun braucht man in der FDP ja glücklicherweise keinerlei Gedanken
an irgendwelche Kanzlerschaften zu verschwenden, da würde man sich
schon freuen, wenn man im September überhaupt wieder in den Thüringer
Landtag einzöge. Aber der oberliberale Spitzenkandidat Uwe Barth
dachte sich wohl, ein FDP-Wahlbier beizeiten und der mutmaßliche
Wähler lässt sich so benebeln, dass er im Rausche der Wahlkabine
möglicherweise sein Kreuzchen bei den Freidemokraten macht.

Während aber die deutsche Tugend Bier offensichtlich unter einem
männlichen Vorbehalt steht, ist die Politik beim Fußball
geschlechtsübergreifend unterwegs. Kanzlerin Merkel, von der
keinerlei Bier-Zitate überliefert sind, geht in der Kabine der
Nationalmannschaft gewissermaßen ein und aus. Naheliegend, dass sie
es sich nach dem WM-Sieg in Brasilien nicht nehmen ließ, mit Jogis
Jungs den Titel zu feiern. Unser Bundespräsident war übrigens auch
dabei. Aber während die adrette Kanzlerin geradezu jugendlich
beschwingt im Mittelpunkt des Bildes steht und die Spieler nach dem
güldenen Pokal greifen, hat Joachim Gauck – man glaubt es kaum – eine
Flasche Bier in der Hand. Und das als Pastor.

Ihm und den deutschen Tugenden deshalb ein kräftig herzhaftes
Prosit!

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