Rheinische Post: Eine zweite Chance für Wulff

Ein Kommentar von Sven Gösmann:

Der Bundespräsident hat gut in eigener Sache gesprochen, nur viel
zu spät. Trotzdem besteht für Christian Wulff nun wieder die
realistische Chance, dass er sein Amt weiter ausüben kann. Das
Staatsoberhaupt ist dafür als Privatperson so weit gegangen, wie es
ihm überhaupt möglich ist. Wulff hat sich glaubhaft entschuldigt. Er
bedauert sein Verhalten. Er bezeichnet sein privates Gebaren in
Finanzdingen als irritierend. Wohltuend ist, dass er die
sozialneidische Komponente der Kritik an ihm nicht befriedigt hat:
Für ihn bleiben Unternehmer Freunde, mögen sie auch schillernd zu
nennen sein. Das ist menschlich anständig und ordnet auch manch
aufgeregten Anwurf in den vergangenen Tagen richtig ein. Denn hier
war bei aller berechtigten Kritik an Wulffs bis dato verdruckstem
Krisenmanagement auch viel Scheinheiligkeit im Spiel. Christian Wulff
hat zudem, um sein politisches Überleben zu sichern, mit seinem
Sprecher Olaf Glaeseker den wichtigsten Berater geopfert. Gestern war
in einer Analogie zum Schachspiel häufig von einem Bauernopfer die
Rede. Dieses Urteil unterschätzt die Bedeutung Glaesekers für den
Erfolg des Politikers wie des Menschen Wulff. Duzfreund Glaeseker
war, um im Bild zu bleiben, ein Turmopfer. Diese Figur ist neben der
Dame die einzige, die aus eigener Kraft den König mattsetzen kann.
Dass er in der Kreditaffäre von Wulff nicht alles erfuhr, hat
Glaeseker halblaut beklagt. Dies tat er möglicherweise, um von
eigenen Fehlern abzulenken: Glaeseker hatte die Kreditaffäre falsch
eingeschätzt und behandelt. Wo er eine Welle erwartete, traf ein
Tsunami den Strand. Wenn Wulff sich mit seiner Erklärung im
aufziehenden weihnachtlichen Frieden eine Ruhepause verschafft,
vielleicht gar die Karriere gerettet hat, bleibt es doch die
Herausforderung für ihn, sein Amt als Bundespräsident sinnvoll und
anständig auszufüllen. Die zentrale Frage unserer Tage ist nämlich
nicht die nach den privaten Euro des Herrn Wulff, sondern die nach
den Milliarden Euro der Steuerzahler in Europa. Wie aber will der
Bundespräsident, dessen Werkzeug nahezu ausschließlich das Wort ist,
unbefangen zu Finanzdingen Stellung nehmen? Werden wir Bürger nicht
immer im Geiste die Worte „Einfamilienhaus“ und „Privatkredit“
mitdenken? Will Wulff nicht in der achtbaren, aber unpopulären Rolle
eines Bundesnotars verharren, der in der feinen Kanzlei Schloss
Bellevue Gesetze wägt, prüft und unterzeichnet, muss er die anderen
Themenschwerpunkte seiner Amtszeit hervorkehren: die Fragen von
Integration, Familie und Bildungsgerechtigkeit. So könnte er in den
verbleibenden dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit noch ein
respektabler Bundespräsident werden. Das ist allerdings das Maximum
dessen, was Christian Wulff nach dem selbst verursachten Spektakel
der vergangenen zehn Tage erreichen kann.

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