Rheinische Post: Kern-Europa geht voran Von MICHAEL BRÖCKER

Der 8. Dezember 2011 dürfte in die Geschichte
der europäischen Integration eingehen wie wohl nur der 9. Mai 1950,
als Jean Monnet und Robert Schumann den Plan für eine Kohle- und
Stahlgemeinschaft in Westeuropa entwarfen, und der 7. Februar 1992,
als in Maastricht die Verträge für eine gemeinsame Währung
unterzeichnet wurden. Die Brüsseler Beschlüsse sind eine Zäsur in der
Europäischen Union. Aus mehreren Gründen. Der Gipfel beendet die über
Jahrzehnte gepflegte Strategie der schrittweisen, im Konsens
betriebenen Vertiefung Europas. Wie nie zuvor haben Deutschland (vor
allem) und Frankreich auf dem Siedepunkt der Schuldenkrise ihren
Führungsanspruch demonstriert und mit massivem Druck 24 EU-Staaten in
das Korsett einer Konsolidierungsunion gezwungen. Merkels Europaplan
soll Gesetz werden. Schuldenbremsen für alle, Abgabe nationaler
Etat-Souveränität und Sanktionen für Defizitsünder lauten die
(deutschen) Rezepte. Das Kern-Europa folgte der Kanzlerin. Das ist
auch gut so. Schuldenmachen wird in der Euro-Plus-Gruppe künftig
schwieriger. Das ist ein wichtiges Signal an die Finanzmärkte, die
zum Käuferstreik bei Euro-Anleihen übergegangen sind, aber auch an
künftige Generationen. Merkel und Sarkozy wollen ein Fitnessprogramm
für Europa durchziehen, notfalls mit einem eigenem Vertrag, der den
bestehenden Lissabon-Vertrag der EU-27 zu einer Lose-Blatt-Sammlung
verkommen lässt. Das ist das Gefährliche. Erstmals haben die
führenden EU-Repräsentanten bei einem Treffen Europa nicht erweitert,
sondern gespalten. Großbritannien verlässt nach fast 40-jähriger
Mitgliedschaft de facto die Gemeinschaft. Künftig werden Gipfel ohne
die Briten stattfinden (müssen), weil sie nicht zur Stabilitätsunion
gehören und daher nicht mitverhandeln können. Rating-Agenturen und
Anleger werden sich auf die Euro-Plus-Zone konzentrieren, Staatsgäste
zunächst Vertreter des neuen Europa treffen, bevor sie nach London
schauen. Ein Machtverlust Großbritanniens ist die Folge. Das
englische Pfund könnte ins Visier der Spekulanten geraten. Das
wiederum birgt Gefahren für den Handelspartner Deutschland. Doch vor
die Wahl gestellt – Scheitern des Gipfels oder Vorangehen ohne die
Briten – fällt die Entscheidung leicht. Großbritannien braucht die
Europäische Union mehr als umgekehrt. Dass sich der britische Premier
Cameron ausgerechnet in der Finanz- und Schuldenkrise vor den
Finanzplatz London und gegen Europa stellt, dürfte ihm noch leidtun.
„Mehr Europa“ hatten kluge Menschen vor dem Gipfel gefordert. Mehr
Europa ist es geworden. Nur ohne Großbritannien. Winston Churchill,
der 1946 in seiner Nachkriegsrede die „Erneuerung der europäischen
Familie“ forderte, wäre enttäuscht. Seine Nachfolger haben mit der
Familie gebrochen.

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