Rheinische Post: Merkel kann auch ohne Wulff leben

Die Bundeskanzlerin hat diesen
Bundespräsidenten ins Amt gebracht. Ob Angela Merkel mit Christian
Wulff noch glücklich ist? Die im Urlaub weilende Kanzlerin schweigt,
ihre Getreuen ebenso: Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier, der
Wulff bislang nahezu allein verteidigen musste, hat sich eine
Handy-Fastenkur auferlegt. Bildungsministerin Annette Schavan, die
sich für missratene Zöglinge des bürgerlichen Lagers schon einmal
nicht nur heimlich schämte, liest wohl eine interessante Doktorarbeit
und möchte dabei nicht gestört werden. Dieses donnernde Berliner
Schweigen ist es, das Wulff zu denken geben muss. Es beruht auf der
nüchternen Analyse der Unions-Strategen, dass dieser Bundespräsident
die Bundeskanzlerin deutlich mehr braucht, als es umgekehrt der Fall
ist. Bis zu seinen Affären war Wulff ein beinahe übersehener
Präsident, störte aber auch nicht weiter. Das erste Kanzlerinnen-Ziel
war so nach Horst Köhlers überstürztem Abgang erreicht: Das Amt
schien stabilisiert und damit das Vertrauen der Bürger in das System.
Nun ist die Ruhe zwar dahin. Die Kritik aber konzentriert sich
ausschließlich auf den Ausgewählten, nicht auf die Auswählende. So
würde ein Rücktritt Wulffs Merkel und ihre Regierung zwar gewaltig
durchschütteln, mehr aber auch nicht. Angela Merkel ist im Übrigen zu
vorsichtig, im geschwätzigen Berlin bereits Szenarien der
Schadensvorsorge zu diskutieren. Das erledigen andere. Die
Koalitionsfraktionen sind von Wulff abgerückt, die CSU hat ihn in
ihren Spitzenzirkeln „freigegeben“ (das „zum Abschuss“ muss man
mitdenken). Hier wird sogar die einleuchtende Rechnung aufgemacht,
Merkel könne einen Rücktritt für eine ihrer typischen Volten nutzen:
Zöge sie angesichts der auf vier Stimmen geschrumpften Mehrheit von
Union und FDP in der Bundesversammlung einen Sozialdemokraten als
Präsidentschaftskandidat in Betracht und gelänge es Merkel, ihre
Partei davon zu überzeugen, würde sie ihre Optionen für die Zeit nach
der Bundestagswahl 2013 schlagartig erhöhen. In Frank-Walter
Steinmeier, ein häufiger als Kurt Beck und erst recht Joachim Gauck
zu hörender Name, stünde der Typ Bundesnotar bereit, den das Amt nach
den beiden letzten Inhabern bräuchte. Unions-Kandidaten wie Wolfgang
Schäuble oder Ursula von der Leyen gelten in der CDU als nicht
durchsetzbar. Dennoch kann Wulff dem Proteststurm standhalten. Tage,
vielleicht länger. Denn Politik funktioniert nicht so, wie es sich
viele ausmalen. Ein Anruf aus dem Kanzleramt – und Wulff räumte das
Feld? Nein. Der Präsident selbst muss zu der Einsicht kommen, sein
Amt nicht mehr ausfüllen zu können. Wulff kann jedoch zäh sein.
Dreimal kandidierte er für das Amt des niedersächsischen
Ministerpräsidenten, ehe er es eroberte. Diese Ausdauer war eine
seiner Qualitäten. Angesichts der jüngsten Entwicklung klingt das
zugegeben wie eine Drohung.

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