Ein Kommentar von Sven Gösmann:
Bei allen großen Weltkrisen ist es so, dass die Zahl der schlauen
Experten, die alles haben kommen sehen, mit jedem Tag größer wird. In
der ägyptischen Staatskrise, die ein arabischer Flächenbrand oder
eben auch eine Weltkrise werden kann, ist das nicht anders. Seit gut
einer Woche füllen sich die Kommentarspalten und Nachrichtensendungen
mit markigen Aussagen von allerlei Nahost-Kennern, die wahlweise der
Bundesregierung, der Europäischen Union, dem US-Präsidenten oder
allen dreien Untätigkeit gegenüber Hosni Mubarak und seinen
Gefolgsleuten vorwerfen. Das ist im besten Fall idealistisches
Geschwätz, das entweder dem Beeindrucken der Wähler oder der
Befriedigung eigener Eitelkeit dienen soll. Politik aber beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit. Die Lage in Ägypten ist
unübersichtlich. Was es am wenigsten braucht, sind Drohgebärden in
Richtung des noch amtierenden Präsidenten Mubarak oder der
Opposition. Der Satz, den Kanzlerin Angela Merkel und ihr
Außenminister Westerwelle deshalb derzeit wie ein Mantra aufsagen,
lautet richtigerweise: Niemand hat dem ägyptischen Volk
vorzuschreiben, von wem es regiert werden möchte. Es ist nicht die
Zeit der Schaufensterpolitik, sondern der Diplomatie. In deren Wesen
liegt es, dass viele Kontakte diskret erfolgen. Sowohl die
US-Administration, der die Schlüsselrolle zukommt, als auch die EU
und sogar Deutschland sind bemüht, den Kontakt zu den alten Eliten zu
halten und erst einmal herauszufinden, wer sich anschickt, die neuen
Eliten zu bilden. In unserer wieder bipolaren Welt stünde mit China –
wie in Afrika häufiger geschehen – zudem eine andere Schutzmacht für
Ägypten bereit. Um einen friedvollen Übergang Ägyptens von einem
autokratischen Regime zu einer Zivilgesellschaft mit einem Mindestmaß
an Teilhabe zu bewerkstelligen, wird es die alten Machtstrukturen
brauchen, vor allem die Armee. Wer aus der Opposition am Ende dazu
taugt, das Land mit zu führen, ist noch völlig unklar. Stabilität
muss vorrangiges Ziel westlicher Politik sein. Eine stabile, keine
anarchische, auch keine islamisch geprägte Gesellschaft ist
Voraussetzung, dass die im Durchschnitt 24 Jahre junge,
wirtschaftlich unwuchtige ägyptische Zivilgesellschaft sich in
Richtung Demokratie entwickeln kann. Stabilität muss auch mit Blick
auf Israel Ziel sein. Es braucht wenig Fantasie zu erahnen, was ein
Abdriften der arabischen Zentralmacht in das Lager aggressiver
Israel-Gegner bedeuten würde. Deshalb ist das zögerlich wirkende,
tatsächlich besonnene Vorgehen der westlichen Diplomatie richtig.
Weder Ägyptens keineswegs machtlose Machthaber noch der junge
akademisierte Protest auf dem Tahir-Platz dürfen verprellt werden.
Kairo markiert eine Zäsur in der Geschichte des 21. Jahrhunderts.
Besser ein paar Wochen geredet als nur einen Tag geschossen.
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