Schwäbische Zeitung: Biermanns Deutschstunde – Leitartikel

Welch ein Paukenschlag im Konzert der sattsam
bekannten Freudenbekundungen zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer!
Wolf Biermann, den man – ohne beleidigend zu sein – getrost Rampensau
nennen darf, hält sich im Bundestag nicht an die Regeln. Er redet, wo
er singen sollte, er knöpft sich die Linke vor, „die elenden Reste
der Drachenbrut“.

Was für eine kluge Idee, Wolf Biermann in den Bundestag
einzuladen! Dass dieser Mann nicht einfach Gitarre spielen wird,
dürfte Bundestagspräsident Norbert Lammert geahnt haben. Statt der
ewig gleichen hochtrabenden Worte zur Deutschen Einheit ein Mann, der
unter dem DDR-Regime gelitten hat, der im Westen leben musste, weil
sein Staat ihn, den Unbequemen, ausbürgerte. Ein 77-Jähriger, der
doch so viel jünger ist als viele Junge.

Besser hätte man das Wochenende des Mauerfall-Gedenkens kaum
beginnen können, als mit jemandem, der immer noch die Wut auf die
Diktatur in sich trägt. Der sich die Linken vorknöpft, die doch so
viel lieber in die Zukunft blicken wollen. Die sich aus der
Geschichte, aus ihrer eigenen Geschichte als SED-Nachfolger,
wegstehlen wollen. Und welch ein Glücksfall für die Demokratie, wenn
ein Mann wie Wolf Biermann im Bundestag auftreten kann, und die
Linken ihm freiwillig zuhören – auch das muss gewürdigt werden.

Wenn Joachim Gauck und Michail Gorbatschow, Lech Walesa und Wolf
Biermann am Sonntagabend die beleuchteten Ballons in den Berliner
Himmel steigen lassen werden, wird eindrucksvoll daran erinnert, dass
die Mauer Geschichte ist. Im Bundestag aber wurde nicht weniger
eindrucksvoll demonstriert, dass Geschichte lebt. Dass es immer noch
zornige Opfer gibt und Politiker, die wenig aus der Geschichte
lernen. Die Deutschen sollten an diesem Tag neben allem berechtigten
Stolz auf Männer wie Biermann sich auch daran erinnern, dass sie Teil
einer Bewegung waren, die Europa verändert hat. Dass jenes gemeinsame
Haus Europa, von dem Michail Gorbatschow damals träumte, heute wie
damals noch weit weg ist.

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