Schwäbische Zeitung: Debatte nicht dem Mob überlassen – Leitartikel

In Deutschland gab es schon einmal Szenen wie
die vor dem Praktikermarkt in Sachsen: Vor 23 Jahren stand ein Mob
aus Wendeverlierern und angetrunkenen Möchtegern-Blockwarten vor
einem Heim für Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen. In den
1990er-Jahren brannten an anderen Orten des gerade wiedervereinten
Deutschland Häuser, in denen Menschen lebten, die Schutz gesucht
hatten. Es gab Tote.

Szenen, wie damals in Rostock oder heute in Heidenau könnte es
leider immer wieder geben in diesem Land. Der Regierungschef schwieg
damals. Von Helmut Kohl ist uns kein Wort des Mitgefühls mit den
Opfern überliefert. Das Thema wurde am Rande der Gesellschaft
verhandelt, Rechtsradikale zogen danach in einige Landesparlamente
ein.

Zwar ist bis heute kein Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) in einem Asylbewerberheim dokumentiert. Trotzdem ist heute
vieles anders als damals: Minister und Ministerpräsidenten empören
sich über die Vorgänge am Praktiker-Markt von Heidenau. Polizisten
verteidigen Flüchtlinge, anstatt mit Rechtsradikalen zu
fraternisieren. Die Frage, wie wir mit Flüchtlingen umgehen, welche
kommen können und wie wir sie integrieren, ist in der Mitte der
Gesellschaft angekommen. Alle scheinen darüber zu diskutieren und
überlassen das Thema nicht den Rechtsextremisten in Heidenau und
anderswo.

Dass das so ist, ist weniger das Verdienst der Politik als das
einer Zivilgesellschaft, die es vor einem Vierteljahrhundert so nicht
gab. Helferkreise in den Kommunen übernehmen Aufgaben bei der
Flüchtlingsbetreuung, die eigentlich von den Behörden und Verbänden
zu erbringen wären. Kritiker sprechen bereits vom „Staatsversagen“,
das glücklicherweise durch die Ehrenamtlichen verhindert werde. Den
vielen Freiwilligen, die Sprachkurse geben, Stellen vermitteln und
Wohnungen streichen wäre schon viel geholfen, wenn es in Berlin
endlich eine Debatte geben würde: Darüber, wie wir in Zukunft mit den
Flüchtlingen leben wollen und können.

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