Schwäbische Zeitung: „Der Weg in die Diktatur muss für die Türkei einen Preis haben“ – Interview mit Cem Özdemir, Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen

Grünen-Chef Cem Özdemir fordert im Interview
mit der Schwäbischen Zeitung die Bundesregierung auf, endlich mit dem
Rüstungsexportstopp für die Türkei ernst zu machen.

Herr Özdemir, muss die deutsche Politik nicht auf die Offensive
der Türken in Nordsyrien reagieren?

Deutschland befindet sich im Umgang mit der Türkei gerade auf
Irrwegen. Sigmar Gabriel unterwirft sich Ankara mit einer
Teezeremonie für den türkischen Außenminister. Wenn man sieht, wie
die Propaganda-Medien von Erdogan diese Geste als quasi Einsicht
Deutschlands in die Fehler interpretiert, versteht man, warum die
türkische Opposition dies zu Recht als großen Tiefschlag empfindet.
Und die Bundesregierung setzt noch einen drauf und stimmt der
Ertüchtigung der deutschen Panzer in türkischen Kasernen zu.

Das ist die Antwort der Bundesregierung darauf, dass es weiterhin
Massenverhaftungen in der Türkei gibt, dass Journalisten in
Gefängnissen sitzen, das Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt wird
und man die, die am erfolgreichsten gegen den IS gekämpft haben,
niederkämpft. Das Gegenteil wäre richtig: endlich mit dem
Rüstungsexportstopp in die Türkei ernst zu machen. Spätestens mit den
jüngsten Bildern aus Syrien, die nahelegen, dass deutsche Panzer
unter türkischer Flagge gegen die kurdische Bevölkerung rollen,
sollte doch der Groschen gefallen sein, dass die deutsche
Türkeipolitik so nicht weiter gehen kann.

Was kann Deutschland tun?

Als Deutschland nur andeutete, die Hermesbürgschaften zu ändern,
verging kein Tag und die Türkei hatte die angeblichen Terrorlisten,
auf denen deutsche Unternehmer standen, kassiert. Man darf mit der
Türkei von heute keine Gabriel–schen Teezeremonien machen oder ihr
rote Teppiche ausrollen. Der Weg in die Diktatur muss für das Regime
in Ankara einen Preis haben: Aussetzung der Hermesbürgschaften,
Aufrechterhalten der Reisewarnungen, keine Ausdehnung der Zollunion –
das sind Maßnahmen, die das Erdogan-Regime an der empfindlichsten
Stelle treffen – der Wirtschaft.

Was kann denn Erdogan stoppen?

Nur ein Absetzen innerhalb des konservativen Lagers. Viele, auch
unter den AKP-Anhängern spüren doch, dass die vollständige
Ausrichtung des Landes auf Erdogan dem Land keine Stabilität bringt.
Erdogans Paranoia führt dazu, dass er sämtliche Medienkanäle unter
Kontrolle bringen will.

Wenn ein Herausforderer gegen ihn anträte, wären die Chancen
künftig sehr schwierig, da Erdogan notfalls Wahlen auch manipulieren
würde, abgesehen davon, dass es sowieso keine Medien mehr gibt, wo
man halbwegs objektiv etwas über Herausforderer erfahren könnte.

Es sei denn, im deutschen Fernsehen.

Da sprechen Sie etwas Wichtiges an. Wir müssen darauf reagieren,
wenn autoritäre Gesellschaften wie die Türkei oder auch Russland die
Medien gleichschalten. Und das nicht nur im eigenen Land, sondern
wenn sie sogar in unser Land hineinstrahlen und versuchen, quasi
faktenfrei ein düsteres Bild unserer Gesellschaft zu vermitteln. Den
Deutschtürken trichtert man ein, dass sie im Feindesterritorium
leben, weil Deutschland angeblich die PKK oder die Gülen-Bewegung
unterstützt und die Türkei spalten möchte. Das wird den Leuten so
lange erzählt, bis ein beachtlicher Teil es glaubt. Wir müssen gegen
das Informationsmonopol von Erdogan oder auch Putin vorgehen. In Köln
und Berlin sitzen doch ganze Redaktionen von kritischen türkischen
Journalisten die im eigenen Land nicht mehr arbeiten können.

Pressekontakt:
Schwäbische Zeitung
Redaktion
Telefon: 0751/2955 1500
redaktion@schwaebische-zeitung.de

Original-Content von: Schwäbische Zeitung, übermittelt durch news aktuell