Schwäbische Zeitung: Franziskus schlägt neue Töne an – Kommentar zu „Amoris Laetitia“

Die eigentliche Botschaft im Schreiben „Amoris
Laetitia“ dürfte in der Tonalität zu finden sein, die Papst
Franziskus anschlägt. Aus seinen Worten ist Wertschätzung für
Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu hören, Respekt für
Entscheidungen, die nicht der kirchlichen Norm und Lehre entsprechen.
Franziskus will keine Diskriminierung mehr, keine Verurteilung. Er
wünscht sich eine einladende Kirche. Und nicht nur am Rande ist
dieser Satz bemerkenswert: „Es ist gut, den Morgen immer mit einem
Kuss zu beginnen!“ Wann hat man jemals von einem Papst einen solchen
Rat bekommen?

Natürlich und verständlicherweise melden sich heute auch die
Enttäuschten zu Wort, die sich für wiederverheiratet Geschiedene oder
gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mehr Fortschritt erwartet
hatten. Doch nach den Kontroversen während der Bischofssynoden musste
Franziskus darauf achten, seiner Kirche keine weitere Zerreißprobe
zuzumuten. Die Unauflöslichkeit der Ehe infrage zu stellen, hätte
sicher zu Spannungen bis hin zur Kirchenspaltung führen können.

Mit den aktuellen Aussagen und der neuen Sprache provoziert das
katholische Kirchenoberhaupt seine Kritiker ohnehin. Wenn er die
individuelle Gewissensentscheidung betont und damit die Kirchen vor
Ort stärkt, schwächt er das römische Lehramt und den Apparat im
Vatikan. Der Theologe Wolfgang Beinert – ein Freund des emeritierten
Papstes Benedikt XVI. – erklärt: „Das ist so, wie wenn man ein Haus
innen entkernt und neu baut, aber außen die Fassade lässt.“

Wie lange wird Franziskus, der bald 80 Jahre alt wird, die
Erneuerung der entkernten Kirche noch voranbringen? Die gelebte
Option für die Armen und der Dialog mit anderen Religionen wie auch
der Orthodoxie sind Beispiele für seinen Kurs. Auch werden
Homosexualität und Ehescheidungen nicht mehr von vornherein verdammt.
Doch unumkehrbar sind seine Reformen längst nicht. Franziskus braucht
mehr Rückhalt – sonst bleibt er Episode.

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