Südwest Presse: Kommentar zu Nahost

Wie soll man das bezeichnen, was sich am Wochenende
vor dem ägyptischen Verfassungsgericht abgespielt hat? Als
Fortsetzung von Präsident Mursis Dekreten mit anderen Mitteln?
Tausende Islamisten blockierten die Zugänge zu dem Gerichtsgebäude
und bildeten eine so handgreifliche Drohkulisse, dass seine Richter
um Leib und Leben fürchten mussten. In dem Machtkampf am Nil wird zu
immer härteren Bandagen gegriffen. Unter dem weiten Deckmantel
revolutionärer Rhetorik scheint inzwischen alles erlaubt. Zweifellos
hatten die obersten Richter vor, die Verfassungsgebende Versammlung
und das Oberhaus für nichtig zu erklären. Die Islamisten dagegen
wollen das mit Hilfe ihrer Straßenbataillone so lange verhindern, bis
sie die Verfassung in zwei Wochen per Referendum durchgeboxt haben.
Damit aber ist das neue Grundgesetz Ägyptens bereits vor seiner
Geburtsstunde von Gesetzlosigkeit und Anarchie überschattet. Was zum
krönenden Manifest der Selbstbefreiung des Volkes von Hosni Mubaraks
Diktatur werden sollte, ist nun beschmiert mit Gewaltmanövern und
politischen Intrigen sowie einem fundamentalen Unwillen zu
Kompromiss, Kooperation und Beteiligung der ganzen Bevölkerung.
Ausgerechnet die neue Verfassung spaltet Ägypten so tief wie nie
zuvor. Präsident Mursi versucht jetzt den Durchmarsch auf eigene
Rechnung. Politische Kompromisse mit der Opposition lehnt er ab,
ebenso die Rückkehr zu einem pfleglichen Umgang mit der Judikative.
Die Nation könnte das in heillose Turbulenzen stürzen und das
ägyptische Volk am Ende um das kostbare Erbe seines Arabischen
Frühlings bringen.

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Südwest Presse
Lothar Tolks
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