Notwendige Wende
Die Rechtssicherheit ist wieder hergestellt. Der Bundestag hat das
Gesetz zur Beschneidung von Jungen verabschiedet. Das Gesetz bedeutet
die Rückkehr zu der Normalität, wie sie vor dem umstrittenen Urteil
des Kölner Landgerichts in Deutschland war. Im Sommer werteten
Richter Beschneidungen als Körperverletzung und stellten sie unter
Strafe. Dem Recht auf körperliche Unversehrtheit räumten sie Vorrang
ein vor dem Recht auf Religionsfreiheit und damit verbunden dem
Elternrecht, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen.
Gestern nun die Wende. Sie kommt mit Einschränkungen. Der Gesetzgeber
legt fest, wer Beschneidungen vornehmen darf und wie Schmerzen zu
vermeiden sind. Die Vorgaben hinterlassen Grauzonen. Das gehört zur
Wahrheit. Und dennoch hat der Gesetzgeber eine gute Entscheidung
getroffen. Mehr noch als für Muslime zählt die Beschneidung von
Jungen im Judentum nach Auffassung der übergroßen Mehrheit der Juden
zum unverzichtbaren Kern ihrer Religion. Dieses Zeichen markiert den
unauflöslichen Bund, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat.
Die Richter des Kölner Gerichts haben dies als eine überholte
Tradition abgetan und einen Schlussstrich unter eine jahrtausendealte
religiöse Praxis ziehen wollen. Religiöses Leben wäre nach Auffassung
der Mehrheit der Juden wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust in
Deutschland nur noch eingeschränkt möglich gewesen. Denn fortan
hätten Polizei, Staatsanwälte und Jugendämter als Konsequenz aus dem
Kölner Urteil in jüdischen Familien über die Umsetzung des
Richterspruchs gewacht. Man muss sich das einmal im Alltag
vorstellen. Es ist nachvollziehbar, dass die jüdische Gemeinde und
beide großen Kirchen das Urteil als Angriff auf jüdisches Leben
verstanden haben, zumal sich in die Debatte reichlich antisemitische
und muslimfeindliche Äußerungen mischten. Doch es geht nicht nur um
Geschichtsvergessenheit, es geht auch um „Aufklärung“ und religiöse
Toleranz. Die mit Vehemenz geführte Diskussion hat Fragen aufgeworfen
zum Platz des Religiösen und seiner Ausdrucksformen in einer
säkularen Gesellschaft. Wie viel Religiöses kann und will eine
religionsferne Gesellschaft tolerieren? Wo endet die Offenheit einer
absehbaren Mehrheit für eine Minderheit? Aber auch: Wo stoßen
religiöse Gepflogenheiten an ihre Grenzen? Antworten müssen von Fall
zu Fall gefunden werden. Während die Genitalverstümmelung von Mädchen
(sie ist mit der Beschneidung von Jungen nicht gleichzusetzen) weiter
ein Verbrechen bleibt und Scharia-Gerichte im deutschen Rechtssystem
keinen Platz haben, wird bei Fragen wie dem Schächten schon gerungen.
Um Abwägungen kommt man nicht vorbei – schon deshalb nicht, weil die
Gesellschaft bunter wird, weil sich Kontexte verändern, aber auch
weil es innerhalb ethnischer und religiöser Gemeinschaften Bewegung
gibt. Das bedeutet, selbst wenn mit dem neuen Beschneidungsgesetz die
Rückkehr zur Normalität vor dem Kölner Urteil formuliert ist, so hat
sich diese Normalität bereits verändert. Debatten über religiöse
Tradition und Glaubenskern sind in den vergangenen Monaten in Gang
gekommen, Bedenken gegen die Beschneidungspraxis wurden auch von
jüdischen und muslimischen Eltern formuliert. Die Auseinandersetzung
mit den Schmerzen, die Säuglingen und Kindern möglicherweise zugefügt
werden, ist nicht mehr unter den Teppich zu kehren. Das ist wichtig.
Reformen der religiösen Praxis müssen von innen kommen. Wie weit sie
gehen, entscheiden die Glaubensgemeinschaften. Eine Belehrung von
deutscher Seite brauchen sie nicht, offene Gesprächspartner schon.
Pressekontakt:
Südwest Presse
Lothar Tolks
Telefon: 0731/156218
Weitere Informationen unter:
http://