Auf neuen Pfaden
Ein Parlament, das 28 souveräne Nationen und 500 Millionen
Menschen repräsentiert – das gibt und gab es nur einmal auf der Welt.
Insofern entwickelt sich das Europaparlament auf immer neuen Pfaden.
Mit den Gepflogenheiten gereifter Demokratien sind die manchmal nicht
vereinbar. Der Parlamentarismus in Spanien oder Griechenland ist mit
dem der Niederlande oder Schweden aber auch nur begrenzt
vergleichbar. Vor diesem Hintergrund ist der Stolz verständlich, den
die seit 1979 direkt gewählte Volksvertretung gestern bei der
konstituierenden Sitzung darüber ausdrückte, dass mit der jüngsten
Europawahl durch einen in den EU-Verträgen nicht vorgesehenen
Überraschungscoup erstmals die Entscheidung über den künftigen Chef
der Europäischen Kommission vorgegeben wurde. Die Aufstellung von
Spitzenkandidaten führte deshalb zwar unter den Staats- und
Regierungschefs zu Turbulenzen – letztlich jedoch wurden Fakten
geschaffen, die so leicht nicht wieder ignoriert werden können.
Ausgerechnet der alte und neue Parlamentspräsident Martin Schulz,
einer der „Väter“ dieses Prozesses, hat persönlich dabei seine Ziele
verfehlt und den angestrebten Posten in der Kommission verpasst –
eine ironische Begleiterscheinung. Der Sozialdemokrat aus dem
Rheinland geht dafür wohl als Parlamentspräsident mit der längsten
Amtszeit in die Fußnoten der Geschichte ein. Fast die Hälfte der
gestern in Straßburg versammelten Abgeordneten wurde erstmals vom
Wähler dorthin entsandt. Über die künftige Ausrichtung der
Institution lässt sich deshalb kaum mehr sagen, als dass es trotz der
Zugewinne für extreme Gruppierungen weiter eine starke und
verlässliche Mehrheit pro-europäischer Kräfte gibt. Offen ist
dagegen, ob sich das zur Absicherung des Personengeschachers um
Martin Schulz und den designierten Kommissionschef Jean-Claude
Juncker geschmiedete schwarz-rot-gelbe Zweckbündnis zur großen
Koalition auch in Sachfragen mausert. Das wäre bedauerlich. Das
Spitzenkandidatenkonzept zöge dann eine Einschränkung der bisher auf
der EU-Ebene erfreulich großen Freiheit der Mandatsträger von
Fraktionszwängen nach sich. Will das Parlament seiner im
Lissabon-Vertrag fixierten wachsenden Bedeutung gerecht werden, muss
es seine Tagesordnung in den Plenarsitzungen entrümpeln. Sie ist oft
mit Detailregelungen überfrachtet, die selbst altgediente Beobachter
überfordern. Die Abgeordneten müssen sich vielmehr stärker den für
die Entwicklung der Europäischen Union zentralen Themen widmen. Dazu
zählt gewiss weiter der Ausbau der EU von der Währungs- zur
Wirtschaftsunion, dessen Notwendigkeit die Schuldenkrise manifestiert
hat, die der vergangenen Legislaturperiode einen unseligen Stempel
aufdrückte. Dazu gehört, den in der Wettbewerbsfähigkeit
zurückgefallenen Staaten zu helfen, ihre hohe Arbeitslosigkeit zu
überwinden. Die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher in diesen
Ländern trägt wesentlich zur EU-Verdrossenheit der Menschen bei. Die
Grenzen des Stabilitätspakts müssen deshalb nicht weiter aufgeweicht
werden – denn könnte die Arbeitslosigkeit mit Staatsschulden
ausreichend bekämpft werden, müsste es längst für jeden einen Job
geben. Gerade die Runderneuerung auf den Abgeordnetenbänken bietet
dabei die Chance, sich gegenüber Kommission und Rat als innovative
Kraft zu profilieren. Das Europaparlament selbst tut alles, um in der
Konkurrenz der Institutionen der Union seinen Einfluss zu mehren – es
muss aber auch der damit verbundenen wachsenden Verantwortung für die
Lösung der Probleme in Europa gerecht werden.
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