Die Bundeskanzlerin neigt nicht zu Übertreibungen. 
Wenn aber Angela Merkel die Lösung der Flüchtlingsfrage als 
„schwierigste Aufgabe“ ihrer bisherigen Amtszeit bezeichnet, wird 
selbst hinter dieser eher nüchternen Formulierung das tatsächliche 
Ausmaß des Problems deutlich. Martin Walser hat es jüngst so 
beschrieben: „Es gibt Herausforderungen, denen wir mit bloßem 
Sachverstand nicht gewachsen sind, Augenblicke, in denen unsere ganze
Existenz herausgefordert wird. Der Strom der Flüchtlinge ist eine 
solche Herausforderung.“ Der existenzielle Charakter der 
Flüchtlingskrise spiegelt sich zuallererst in den Gesichtern 
verzweifelter Menschen wider, in den Augen von Frauen und Kindern, 
die dem Tod im Mittelmeer gerade noch entronnen sind oder an 
europäischen Grenzzäunen mit Tränengas malträtiert werden. Doch steht
Grundsätzliches auch für jene auf dem Spiel, die sich bislang nicht 
hinreichend in der Lage sehen, den humanitären Imperativ der 
Bundeskanzlerin zu erfüllen: „Wir schaffen das!“ Es geht ganz gewiss 
um die Zukunft der Europäischen Union, aber zugleich auch um die 
Handlungsfähigkeit der Berliner Koalition. Horst Seehofer gebührt das
zweifelhafte Verdienst, den ersten Stein im Glashaus der von ihm 
mitgetragenen Bundesregierung geworfen zu haben. Für den CSU-Chef ist
Merkels Flüchtlingskurs ein „schwerer Fehler“, ihr Handeln Ausdruck 
einer „Herrschaft des Unrechts“ und damit reif für Karlsruhe. Nimmt 
man Seehofers Vokabeln vom Kontroll- und Realitätsverlust der 
Kanzlerin hinzu, sodann seinen aktuellsten Befund, dass die 
CDU-Vorsitzende „das Land spaltet“, reicht das allemal für einen 
Scheidungsprozess zwischen nur noch entfernt verwandten 
Parteischwestern. Dass nun auch die SPD, irritiert vom Streit in der 
Union und bedrängt von den deprimierenden Umfragewerten vor den drei 
Landtagswahlen am 13. März, zu zündeln beginnt, überrascht nicht. 
Sigmar Gabriel, seit seiner Wahlschlappe beim Dezember-Parteitag 
ohnehin angeschlagen, droht mit einem Veto gegen den Haushaltsplan 
2017, also praktisch mit einer Aufkündigung des schwarz-roten 
Bündnisses im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs. Wolfgang Schäuble 
keilt zurück, und die Kanzlerin demütigt die Genossen zu allem 
Überfluss mit dem scheinbar besorgten Ratschlag, ihr Vize und die SPD
sollten sich doch bitte nicht so „klein machen“. Ein solcher Umgang 
unter Koalitionsparteien muss auf das Publikum einfach verstörend 
wirken. Es ist zudem geeignet, ein Mindestmaß an gegenseitigem 
Vertrauen im Regierungslager zu zerstören. Offen bleibt, ob es einer 
angestrengt stoischen Bundeskanzlerin in dieser gereizten Stimmung, 
voll von Putsch- und Rücktrittsgerüchten, überhaupt gelingen kann, 
sich mit ihren hyperventilierenden Juniorpartnern zusammenzuraufen. 
Angela Merkel ist schon in der EU von lauter skeptischen Freunden und
erklärten Gegnern umzingelt, sie regiert ein aufgewühltes Land mit 
einer polarisierten Gesellschaft, da kann sie sich nicht auch noch 
leisten, dass sich ihre Koalition zerlegt. „Meine Erfahrungen sagen 
mir“, spricht der altersweise Walser, „dass unsere Demokratie nicht 
stabil ist. Wir sind anfällig für Parolen. Für Hysterie.“ Umso mehr 
kommt es auf die Verantwortung der herrschenden Politik an, die 
allgemeine Verunsicherung nicht noch durch Rankünen und Machtspiele 
zu verstärken. Die Koalition sollte sich am Riemen reißen. Das ist, 
wie die Kanzlerin sagt, ihre „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“. 
Machtspiele zerstören Vertrauen unter den nervösen Partnern
Pressekontakt:
Südwest Presse
Ulrike Sosalla
Telefon: 0731/156218